10. Kapitel

431 28 8
                                    

Emily setzte sich in der Pause zu mir.
Ihr Rucksack landete scheppernd auf dem Tisch, als sie sich neben mir fallen ließ. Um uns herum surrte die Luft von den Stimmen der vielen Schüler, die sich in der Cafeteria versammelt hatten.

"Also, willst du mir jetzt mal sagen, was hier abgeht?", fragte sie forschend, während ihr Blick sich eindringlich in meine Augen stach.
"Du ignorierst mich schon den ganzen Tag. Nicht, dass ich damit nicht umgehen könnte, aber so wie heute, warst du noch nie drauf. Du ignorierst mein Winken, läufst wie ein Geist zu deinem Platz und jeder um dich herum ist wie Luft für dich.", fuhr sie fort, als ich nicht antwortete. Ich scharrte mit der Gabel auf meinem Teller das Essen hin und her. Sollte ich ihr von dem Chaos gestern Abend und heute Morgen erzählen? Der Wolf wollte es nicht. Noch dazu kam, dass sie mir nicht glauben und mich in eine Psychiatrie einweisen würde. Ich entschied mich dagegen.
"Also?"
"Mir geht es nicht sonderlich gut.", antwortete ich stattdessen. Plötzlich knallte ihre Hand gegen meine Stirn und ruhte dort eine Weile.
"Also krank wirst du nicht.",stellte sie fest, während ich sie überrascht anblinzelte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

"Was ist los?", harkte sie weiter nach.
Ihre Blicke suchten nach meinem.
"Das sage ich dir, wenn ich es selbst weiß.", erklärte ich und eine leise Stimme flüsterte mir zu, dass es vielleicht besser war, ihr davon nichts zu sagen.
Die ganze Situation war einfach zu bizarr und widernatürlich. Und wer wusste schon, was der Wolf tun würde, wenn er erfuhr, dass ich Emily eingeweiht hatte.

Der restliche Tag verging schleppend langsam und als ich schließlich in mein Auto stieg, wusste ich nicht, ob ich mir das Ganze wirklich antun wollte. Meine Hoffnung war ja, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte, oder, dass das alles nur eine Einbildung war. Zuhause angekommen, blieb ich noch eine Weile im Auto sitzen. Ich wusste nicht, ob ich nicht einfach wegfahren und nie wieder kommen sollte, oder ob ich mir seine Erklärung anhören wollte.
Was hatte ich mir da nur ins Haus geholt? Schließlich rappelte ich mich doch dazu auf, mich dem wahrgewordenen Irrsinn zu stellen und stieg aus.
Noch bevor ich die Haustür aufschließen konnte, wurde sie von innen geöffnet und Hände zogen mich hinein.

"Wurde aber auch Zeit, dass du kommst. Ich dachte schon, du wärst über alle Berge." Wäre ich vermutlich auch, wenn dieser gewisse Keim an Neugierde nicht da wäre.

Die Tür knallte hinter mir zu, während er mit Blicken verfolgte, wie ich meine Tasche auf das Sofa warf. Dann setzte ich mich hin und starrte ihn erwartungsvoll an, ignorierte dabei gekonnt sein gutes Aussehen. War das eigentlich noch legal, so unschuldig auszusehen, wenn etwas so Gefährliches dahintersteckte?
Er hatte sich in der Zwischenzeit etwas Normales angezogen und nun war dieser wandlungsfähige Körper in eine Jeans und ein T-shirt versteckt. Hatte er keinen Pullover oder so etwas dabei? Draußen waren es Minusgrade und es lag immernoch Schnee. Auf den ersten Blick konnte ich nicht sagen, dass er sich etwas Warmes mitgebracht hatte. Ich rief mir jedoch in Erinnerung, dass er kein normaler Mensch war und vermutlich ein anderes Kälte-Wärmeempfinden besaß.
Er stand da als wäre er nichts anderes als ein Mensch. Als wäre er nicht der Wolf, dem ich in der letzten Nacht seine Wunden verbunden hatte.
Meine Augen schweiften durch den Raum.
Er hatte aufgeräumt.
Der kaputte Maulkorb war weg und die leeren Plastikpackungen waren in den Mülleimer gestopft worden. Obendrein war das Blut verschwunden.
Immerhin sah mein Haus nicht mehr aus, als wäre tatsächlich ein Wolf darin.
Nach einer Weile seufzte er und rollte mit den Augen.
"So wie es aussieht, bin ich dir wohl eine Erklärung schuldig.", fing er an, als ich nichts sagte.
Stumm starrte ich ihn an und wartete einfach ab.
"Also ich lebe mit meinem Rudel im Wald in einer kleinen Siedlung. Normalerweise kommen wir nicht so nah an die Stadt heran. Nur unser neuer Alpha sucht hier nach etwas und in dieser Zeit leidet das ganze Rudel. Er ist im Moment sehr leicht reizbar, weshalb du mich gestern verbinden musstest. Danke übrigens dafür." Es gab ein ganzes Rudel von ihnen? Wie konnte das nie bemerkt werden, dass diese Wölfe anders waren?
Und ich hatte also wirklich dem Alpha ins Bein geschossen? Dieser grünäugige Wolf war der Alpha. Der Wolf, der mich schon einmal angegriffen hatte. Ich spürte, wie mein Blut aus dem Kopf schoss. Leichenblass sah ich zu ihm auf. Ich wusste, was das für mich hieß. Vermutlich würde ich jetzt gar keine ruhige Minute mehr haben.
"Ach der verträgt das. Der muss so etwas wegstecken können. Wenn nicht, wäre er kein guter Alpha.", sagte er hastig und hob beschwichtigend die Hände.
"Muss ich mich jetzt auf irgendeinen Typen einstellen, der mich umbringen will?" Es reichte ja nicht schon, dass ich von Wölfen oder Werwölfen oder was auch immer sie waren, angefallen wurde, jetzt fehlte nur ein mordlustiger Irrer, der eben eines dieser Wesen war.

Er überlegte kurz, aber dann schüttelte er den Kopf.
"Er hat im Moment Wichtigeres zu tun, als einem Menschenmädchen nachzusetzen." Ich nickte, aber irgendwie war das keineswegs beruhigend. Ich rieb mir die Augen. Von dem anstrengenden Tag, schmerzten und brannten sie.
"Wie geht es deinem Bein?", fragte ich schließlich. Er schaute an sich hinab und bewegte es so, als wäre es nie verletzt gewesen. "Soweit ganz gut. Es wird noch einige Stunden dauern bis es vollständig verheilt ist, aber soweit ist es bisher gut verheilt, dank dir und deinen Verbandskünsten." Er sah mir wahrscheinlich den Schreck an, den er mit seinen Worten verursachte. Ich schüttelte den Kopf. Ich war gefangen in einer verquerten Welt mit übernatürlichen Wesen, die viel zu schnell heilten.
"Das liegt am Stoffwechsel.", sagte er, als würde das alles erklären. Ich erwiederte nichts darauf und er setzte sich auf den Rand des Sofas und betrachtete den Wald draußen.

"Wie entsteht ihr?", fragte ich, weil mich meine Neugier dazu drängte, aber, weil auch die Frage in mir drängte, ob ich jetzt etwa auch zu den Mutanten gehörte. Er lachte auf.
"Genauso gut könntest du fragen, wie Menschen entstehen. Durch Fortpflanzung natürlich." Kurz kam ich mir ziemlich dumm vor, da ich kurz befürchtet hatte, dass es auch durch Übertragung möglich wäre, doch scheinbar war das nicht der Fall. Der Wolf hielt kurz seinen Blick gesenkt. Ein kleiner naiver Teil von mir beruhigte sich langsam.

"Wie heisst du überhaupt?"
"Nolan.", kam prompt die Antwort.
"Okay Nolan, und was tust du jetzt hier? Was wird das alles? Warum hast du mich nicht schon umgebracht, damit du eine Zeugin los wirst?" Er war ja nun seit Tagen in meiner Nähe, was im Nachhinein betrachtet irgendwie unheimlich war. Nun, da ich sein Geheimnis kannte, würde sich vermutlich einiges ändern.
"Ich soll dich beschützen und nicht umbringen.", sagte er entrüstet und sah mir in die Augen.
"Wovor genau sollst du mich beschützen?", fragte ich und kniff die Augen zusammen. Was sollte mir hier gefährlicher werden als der Wolf, der mich schon angegriffen hatte?

"Das sage ich dir, wenn es soweit ist." Sein Blick glitt prüfend an mir herunter und wieder hinauf. Was sollte das denn jetzt werden?
"Und warum nicht jetzt?"
"Weil du es nicht verstehen würdest.", erklärte er und ignorierte die Fragezeichen in meinen Augen.

"Dann erklär es mir!", forderte ich, doch er schüttelte den Kopf.
"Noch nicht." Dann wandte er sich ab und trat zur Verandatür.
Wenn er mich jetzt mit all meinen Fragen allein ließ, brauchte er sich nicht einbilden, dass ich ihm heute Abend eine Schüssel mit Wasser hinausstellte.
"Ich kann dir das alles erst erzählen, wenn es soweit ist. Tut mir leid." Mit diesen Worten trat er hinaus und verschwand schließlich im Wald. Murrend sah ich ihm nach, dann legte ich mich auf das Sofa und begann an der Narbe an meinem Fußknöchel zu kratzen, die anfing zu jucken.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt