9. Kapitel

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Die Pfoten wurden länger und veränderten die Farbe. Die Klauen und Haare verschwanden und wurden zu Fingernägeln. Die beiden Hände, die nun auf meinem Boden gestützt da standen, streckten ihre Finger und ein zufriedenes Seufzen ertönte.
Die Hände verschwanden und während mein Gehirn versuchte zu verstehen, was hier gerade vor sich ging, raschelte es leise und kurz darauf hörte ich ein Geräusch, das klang, wie nackte Haut, die auf Fliesen patschte. Sämtliches Blut wich aus meinem Gesicht. Was zum Teufel ging hier vor?
Einen kurzen Moment lang, sah ich eine hochgewachsene, menschliche Gestalt durch den Schlitz hindurch. Ich traute mich kaum den Kopf zu bewegen, als das Schnüffeln hinter der Tür ertönte. Die Panik flammte sich immer weiter in mir hoch. Der Griff der Tür wurde berührt und angezogen.
Das war der Moment, in dem ich es nicht mehr aushielt, hinter der Tür hervorsprang, dem Ding mir gegenüber keinen einzigen Blick zuwarf und zur Tür rannte. Allerdings kam ich nicht weit. Kräftige Arme schlangen sich um meinen Bauch, als ich schon halb durch den Raum war. Ich schrie und versuchte mich wie wild zu verteidigen und aus dem Griff zu winden.
Ich trat um mich, zappelte und schlug und irgendwie schaffte ich es, meinem Gegner solche Schmerzen zuzufügen, dass er mich doch los ließ.
Ich stolperte Richtung Haustür. Es war nicht mehr weit, bis zu meiner Rettung. Ich musste hier raus!

"Nevaeh!", rief das Ding hinter mir und ich erstarrte. Es kannte meinen Namen. Langsam drehte ich mich so, dass ich es ansehen konnte, was auch immer es war.
Mein Instinkt riet mir, nicht mit dem Ansehen des Dings zu beginnen, doch langsam und vorsichtig wanderte mein Blick nach oben.
Füße. Es waren ganz normale menschliche Füße! Die Beine und die schmale Hüfte auch!
Mein Herz schlug wie wild, als mein Blick den trainierten Oberkörper übersprang und gleich zum Gesicht glitt.
Es war ein Kerl. Warum war der Wolf ein Kerl? Ein Mensch? Mein Hirn versuchte es zu begreifen, doch es tat sich damit schwer.
Er hatte ein schiefes Lächeln aufgesetzt und betrachtete mich mit ruhigem Blick. Die dunkelen Locken fielen ihm ins Gesicht und die gelbgrauen Augen funkelten aufgeregt.

Ich wich zurück.
"Was bist du?", fragte ich und stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
Er grinste leicht.
"Eigentlich solltest du gar nichts von uns sehen oder hören, aber dafür, dass die Sache nun aus dem Ruder gelaufen ist, hat mein Alpha ja gesorgt.", sagte er, doch für mich ergab das keinen Sinn.
"Was bist du?", fragte ich noch einmal mit Nachdruck. Mich interessierte nicht, von was er da sprach. Mich interessierte sein Name nicht. Mich interessierte nichts an ihm, außer der Tatsache, was er war.
Er seufzte.
"Ein Gestaltwandler.", erklärte er ruhig und trat näher.
"Bleib weg von mir.", sagte ich bemüht ruhig. Es war absurd, einfach absurd und unnatürlich! Ich wusste, dass ich zitterte, doch dagegen etwas zu tun, war in diesem Moment unmöglich.
"Eigentlich wollte ich dich vor ihm beschützen, doch sonderlich gut habe ich diese Aufgabe wohl nicht gemacht.", sprach er mit schiefem Grinsen und kam ungerührt weiter auf mich zu.
"Bleib weg!", zischte ich nun und meine Hand glitt zum Messer an meinem Gürtel.
"Bleib!", versuchte ich es nochmal und streckte die Hand aus, um ihn auf Abstand zu halten. Er lachte leise.

"Ich bin kein Schäferhund, den du so auf Abstand halten kannst. Und wo wir gerade dabei sind. Was hattet ihr dem armen Tier zufressen gegeben? Sein Mundgeruch hatte mich nicht einschlafen lassen."

Meine Hand, die am Messer lag, umfasste den Griff fester, mit jedem Schritt, den er tat.
Ich rang mit meinem Verlangen, ihm den Rücken zu kehren und einfach aus dem Haus zu rennen, doch die Haustür war noch zu weit weg und er zu nah, um nicht erwischt zu werden.
"Komm mir nicht zu nahe!"
Dieser Satz sollte bedrohlich klingen, doch alles was aus meinem Mund kam, war klägliches, ängstliches Wimmern.
Nichteinmal zwei Meter war er von mir entfernt, als er endlich stehen blieb, nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet.
Ich zwang meine Augen auf seinem Gesicht zu ruhen, um nicht abzuschweifen.
Er bewegte sich ganz leicht, als würde er meine Bewegungen vorrausahnen können. Als wollte er meine Fluchtgedanken im Keim ersticken.
Das Messer steckte noch immer in meinem Gürtel, während er sich mir langsamer näherte.
Als er mir, meines Geschmacks nach, viel zu nah kam, zog ich es mit einem Ruck heraus und hielt es ihm entgegen.
Überrascht wich er ein ganzes Stück zurück, dann blinzelte er die Waffe an, mit der ich mich retten wollte und kurz darauf stürzte er sich auf mich.

Es dauerte keine Sekunde. Keine Sekunde des Handgemenges und ich war absolut schutzlos.
Das Messer war am anderem Ende des Raumes gelandet und er hielt mich an den Handgelenken fest. Hinter mir war die Wand.
"Was willst du überhaupt von mir?", fragte ich und meine Stimme zitterte. Heiße Tränen sammelten sich in meinen Augen.
"Ich will, dass du mir zuhörst und nicht in deiner Panik wegläufst.", antwortete er und ich wägte meine Möglichkeiten ab. Konnte ich mich aus seinem Griff herauswinden und rechtzeitig in meinem Auto sein, eh er mich einholte? Die Chancen standen erstaunlich schlecht für mich.
Ich versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Sein warmer Atem streifte meine nackte Haut am Hals und ich erschauderte leicht.

Dann traf mein Blick die Uhr und mein Atem stockte.
"Ich werde dir nicht zuhören.", erklärte ich entschlossen und er zuckte überrascht zusammen. Auch ich war überrascht von meinem plötzlichen Mut.
"Warum?", fragte er irritiert. Scheinbar war auch er nicht wirklich auf das vorbereitet, was nun kam.
"Denkst du etwa, dass ich in meiner Freizeit so früh aufstehe? Wenn ich jetzt nicht losfahre, komme ich zu spät, also lass mich los und mach, was immer ihr auch macht. Geh jagen, rauf dich mit anderen, leck dich sauber, was auch immer, aber wenn du mich jetzt nicht loslässt, werde ich dich eigenhändig kastrieren, wenn ich von der Arbeit ausgeschlossen werde, weil ich fünf Minuten zu spät komme."
Meine Stimme klang entschlossen und langsam ließ er mich los. Dann wurde sein Blick schmal.
"Du erzählst keinem von mir oder meinen Fähigkeiten, ist das klar?" In seiner Stimme schwang eine unausgesprochene Drohung mit.
"Als würde mir das jemand glauben.", erwiederte ich mit einem trockenen Lachen, schnappte schnell meine Sachen, rannte aus dem Haus, setzte mich in mein Auto und fuhr los.

Glücklicherweise, schaffte ich es gerade noch so, pünktlich im Klassenraum zu erscheinen. Die Lehrerin warf mir einen bösen Blick zu, bevor sie die Tür schloss und die Tests verteilte.
Doch so sehr ich es auch wollte, ich konnte mich kaum konzentrieren und als ich meine Arbeit abgab, stand kaum ein Wort auf dem Zettel. Die ganze Zeit über spielte sich in meinem Kopf eine einzige Szene ab.
Wie diese wölfischen Pfoten immer länger wurden, bis sie schließlich zu menschlichen Händen wurden und wie diese mich umfassten und mich so nah an diesen ... Gestaltwandler zogen, dass ich seinen Atem spüren konnte. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich den Raum verließ und stumm meiner Klasse folgte.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt