16. Kapitel

388 22 4
                                    

Ich wusste, dass er mich anstarrte. Und durch dieses Wissen konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Ich spürte ihn im Raum, wusste genau, wo er sich aufhielt, auch wenn er sich so leise bewegte, dass man ihn kaum hören konnte.
Irgendwann setzte er sich auf die Couch und konzentrierte sich auf etwas anderes. Egal, wie sehr ich es auch versuchte, ich fand nichts, was darauf hindeuten könnte, dass sich irgendwo in meinem Körper dieses kleine Stückchen Wolf aufhielt. Irgendwann öffnete ich die Augen und starrte frustriert Ryan an, der sich hingelegt hatte. Seine Augen waren geschlossen und seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.
Ich wusste nicht, wie lange ich gesucht hatte, doch als ich auf die Uhr sah, blieb mir beinahe das Herz stehen. Es war bereits eine Stunde vergangen! Nicht dass ich noch etwas vorhatte, aber es war erschreckend, wie vertieft ich war.
Ich setzte mich auf den freien Sessel und beobachtete Ryans Atmung.

Er schlief, kein Zweifel. Also beobachtete er mich auch nicht mehr. Mein Blick glitt zu seinem Gesicht. Er wirkte völlig gelöst und entspannt, trotz seiner etwas härteren Gesichtszüge, die meist zu einer Maske verzogen waren.
Ich blinzelte, als mir wieder klar wurde, dass ich ihn anstarrte und mir wurde bewusst, dass ich jetzt in Ruhe weitersuchen konnte. Also schloss ich die Augen und suchte weiter. In meinen Händen und Armen fand ich nichts, genauso wenig, wie in den Füßen und Beinen. Frustriert atmete ich durch. Es konnte doch nicht so schwer sein, etwas Fremdartiges in meinem Körper aufzuspüren. Wenn ich genug hatte, würde ich morgen weitersuchen und den Flohzirkus auf meiner Couch für heute hinauswerfen. Ich wanderte über meinem Bauch und meinen Brustkorb, wollte gerade in meinem Kopf weitersuchen, als ich etwas bemerkte.
Es war wie ein kleines Flattern, als ich mit meinem Bewusstsein knapp unter meinem Herzen verharrte.
Ich sah mit meinem inneren Auge genauer hin. Es war, als wäre dort ein kleines Glühwürmchen, welches stumm vor sich hinglimmte. Ich erinnerte mich an Ryans Worte.
Es ist untrainiert und klein, aber es würde wachsen, wenn ich es nutzte. Jetzt musste ich nur noch wissen wie, und dazu musste ich Ryan wecken. Wenn ich schon das alles nicht wieder loswerden konnte, musste ich immerhin das Beste aus der ganzen Sache machen.
Ich sammelte meine ganze Aufmerksamkeit um diesen kleinen Flecken Fremdartigkeit und betrachtete ihn sozusagen von allen Seiten, bis ich ihn berührte.

Schlagartig veränderte sich die Welt, während stechende Schmerzen durch meinen Körper peitschten. Ich spürte, wie sich meine Knochen schlagartig veränderten und meine Muskeln langgezogen und in eine neue Form gebracht wurden. Meine Haut begann zu jucken, als Haare aus ihr hervorsprossen.
Das Ganze dauerte Sekunden, Minuten, Stunden. Ich wusste es nicht, aber ich registrierte, dass ich nun auf Pfoten, hechelnd, in meinem Wohnzimmer stand.
Ich wackelte einige Schritte vorwärts, wusste nicht richtig wohin mit den vier langen Beinen.
Übelkeit überkam mich, als die Verwandlung ihren Tribut zollte und ich wankte noch einige Schritte Richtung Bad, bevor sich mein Mageninhalt nach außen begab.
Ich hasste den Geruch und den Nachgeschmack von Erbrochenem.
Verunsichert sah ich zu Ryan. Konnte er mir nicht helfen? Und wurde er bei dem Ganzen nicht wach? Es konnte doch nicht sein, dass er bei diesem Gestank schlafen konnte.
Er zeigte nur eine einzige Reaktion.
Die Decke die auf der Sofalehne hing, zog er herunter und legte sie sich über das Gesicht.

Ich stieß einen verärgerten Laut aus, das sich fast nach einem Bellen anhörte.

Blitzschnell saß er, die Decke von sich wegwerfend und beäugte panisch seine Umgebung. Gleich darauf, als er mich entdeckte, rümpfte mein Mentor die Nase.

"Ich sagte doch, dass du nur den Wolf suchen solltest. Nicht, dass du ihn berühren solltest!", brummte er verschlafen und rieb sich die Augen.
Ich starrte ihn nur an. Dann hätte er sich eben genauer ausdrücken sollen.
Schließlich stand er wortlos auf, ging in das kleine Bad und ließ Wasser in einen Eimer laufen. Ich beobachtete ihn aufmerksam, während er den Eimer in das Wohnzimmer trug, zusammen mit einem alten Scheuerlappen.
Er verzog keine Grimasse als er das Erbrochene wegwischte. Das musste ich ihm lassen, er verbarg seinen Ekel wirklich gut.
Als es weg war, entsorgte er den Lappen und schüttete das Wasser weg.

"So Neve, da du dich schon verwandelt hast, kann ich immerhin gleich beim Wichtigsten ansetzen." Ich legte den Kopf schief und er deutete auf die Glasfront hinter ihm. Auf der Terasse lag immernoch der Kadaver. Ich spürte, wie mein aufgewühlter Magen rumorte und schüttelte den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass ich ihn nicht fressen konnte.
Ryan verdrehte die Augen.
"Ich hatte ja schon ein paar Neuwölfe erlebt, aber nie hat sich einer geweigert zu fressen.", beschwerte er sich und sah mir eindringlich in die Augen.
Am liebsten hätte ich mich klein gemacht und versteckt, aber ich wollte mir das nicht bieten lassen, von ihm Befehle entgegen zu nehmen. Statt mich zu verkrümeln, stellte ich mich aufrecht hin und sah ihm direkt in die Augen.
Ich hätte schwören können, dass kurz ein angedeutetes Lächeln und ein Funke Stolz in seinen Augen aufglomm, aber ebenso schnell, wie es erschien, verschwand es wieder und ich könnte das Ganze auch für eine Haluzination halten. Könnte.

"Los! Raus jetzt und friss!", forderte er, ging zur Terassentür und öffnete sie. Kalte Luft strömte herein und trug den Geruch von Blut und Fleisch mit sich. Wieder fuhr mein Magen auf.
Ich brummte unwillig und sah mich nach Möglichkeiten um, um aus dieser Situation herauszukommen.
Als ich wieder zu Ryan sah, stand an seiner Stelle, der Wolf den er beherbergte.

Die grünen Augen hoben sich stechend von seinem dunklen Fell ab, was fast hypnotisierend wirkte. Er wirkte noch größer als damals, als er mich angegriffen hatte. Der Wolfskörper schien nur aus Muskeln zu bestehen.
Ryan wedelte mit dem Schwanz.
"Na komm kleine Wölfin.", rief er in meinem Kopf. Erschrocken jaulend stolperte ich einige Schritte zurück und prallte gegen die Wand, während mein Herz mir beinahe aus der Brust sprang. Was war das?!? Wie ging das?!?
Er zeigte mir seine Zähne, als wollte er lachen.
"Das ist unsere Art der Verständigung. Gewöhn dich lieber daran. So werden alle mit dir in ihrer Wolfsgestalt reden."
Alle? Entgeistert sah ich ihn an. Mir ging es gewaltig gegen den Strich, dass ich von nun an Stimmen in meinem Kopf hörte. Amüsiert sah Ryan mich an, dann wechselte sich sein Gesichtsausdruck und er wurde wieder ernst.
"Also los! Iss jetzt etwas.", forderte er und ich näherte mich skeptisch dem toten Tier.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt