Ryan seufzte.
"Also, normalerweise wird es vererbt, aber es gibt da einen bestimmten Tag im Jahr an dem es auch anders möglich ist, die Gestaltwandlung weiterzugeben. Man könnte ihn quasi als zweiten Geburtstag ansehen. Es ist der Jahrestag, an dem wir uns zum ersten Mal verwandelt haben. An diesem Tag im Jahr haben wir die Möglichkeit andere Menschen in das zu verwandeln, was wir sind.
Dabei wird ein spezielles Bakterium in den Reißzähnen entwickelt, welches sich im Körper des Gebissenen quasi festsetzt und vermehrt. Je nachdem, ob der 'Gebissene' immunstark ist oder nicht, kommt es innerhalb von zwei bis vier Wochen zur Verwandlung."
Gebannt hörte ich ihm zu. Es war das erste Mal, dass er es so genau erklärte. Nur schien es auch besonders immunstarke Menschen zu geben, bei denen es noch länger dauerte.
"Also willst du mir gerade sagen, dass ein einfaches Antibiotikum geholfen hätte, Nevaeh vor der Verwandlung zu bewahren?"
Emilys Stimme war beinahe schrill. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Fragend huschte mein Blick zu Ryan, der ihn fest erwiderte.
"Nein. Es ist, soweit, wie ich es getestet habe, gegen alles resistent. In meinem Labor habe ich so manche Nächte gesessen und das Bakterium studiert. Es blieb bei allen Therapien unversehrt."
"Müssten Ärzte dann den Erreger nicht auch sehen können, wenn du daran herumtüftelst?"
Auf Ryans Gesicht stahl sich ein Grinsen.
"Die haben die wahre Funktion dieses Bakteriums noch nicht erraten. Die Forschung daran ist mehr oder weniger eingestellt worden. Es wurde nur als multiresistent eingestuft und fertig waren sie. Noch dazu verwächst es sich mit den Jahren und wird damit unauffälliger. Es wird immer mehr zu körpereigenem Gewebe. Würde man bei Nevaeh eine Probe nehmen, wäre das Bakterium sofort unter dem Mikroskop nachweisbar. Bei mir müsste man schon sehr genau hinsehen. "
"Oh." Emily sah ihn entgeistert an.
"Aber die Gefahr besteht, dass irgendwann irgendjemand die wahre Wirkung des Bakteriums der Menschheit zeigt, aber damit macht er sich selbst zum meistgesuchten Menschen auf diesem Planeten."
Ich konnte mir gut vorstellen, dass dann sämtliche Gestaltwandler hinter demjenigen her waren und nicht lang zögern würden den Herausgeber dieser Information zu töten.
Vermutlich würde nicht nur das Blut desjenigen fließen, sondern auch das vieler anderer, die versuchen würden, den Mund aufzumachen.
Was passieren würde, wenn die Menschen von diesem Bakterium erfahren würden, konnte man nur erraten.
Entweder sie würden in Panik verfallen, oder Experimente starten.
Ich wollte gar nicht weiter darüber nachdenken und damit schien ich mit Ryan und Emily einer Meinung zu sein. Ihr Schweigen sprach Bände.Nachdem Emily ihrer Meinung nach fertig mit Ryans Befragung war, verabschiedete sie sich.
Kaum fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, wandte sich der Wolf mir zu.
Die Gewissheit wieder mit ihm allein zu sein, beschleunigte meinen Herzschlag. Sein Blick glitt musternd über mich.
"Na ihr habt es gestern Abend ja krachen lassen. Ich konnte den Alkohol schon an der Haustür riechen. Aber schlimmer als das Haus, riecht trotzdem noch ihr beiden. Dass du Emily mit ruhigem Gewissen fahren lassen konntest, ist mir rätselhaft."
Ich lachte leicht. Klar gefiel es mir nicht, dass sie fuhr, aber wenn er wüsste, wie wir beide schon gefahren waren, würden sich seine Haare sträuben, dass der Wolf mehr wie ein Staubwedel aussah.
"Emily ist schon in ganz anderen Zuständen gefahren. Damit kommt sie klar. Außerdem hatte sie etwas Zeit zum Ausnüchtern. Also du wolltest reden ..." Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und beobachtete, wie Ryan sich ebenfalls setzte."Nolan und ich haben uns etwas einfallen lassen. Übernächste Woche beginnen bei dir die Ferien. Wir fahren weg, um dir das Jagen beizubringen, da es hier noch zu gefährlich ist."
Überrascht sah ich ihn an. Es war keine Frage ...
Wie musste ich mir das vorstellen? Nur er und ich oder das komplette Rudel?
Wohin wollte er überhaupt?
Er faltete die Hände als wäre er nervös.
"Es ist vermutlich etwas kurzfristig."
Etwas...
Meine Eltern hatten sich lange nicht blicken lassen und irgendwie hatte ich die Vermutung, dass sie gerade in den Ferien auftauchen würden. Wahrscheinlich zum ungünstigsten Zeitpunkt.
"Wie lange soll der Tripp gehen und vor allem wohin?"
Seine Züge hellten sich auf und seine Augen leuchteten, als sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete.
"Wir fahren für eine Woche in den Westen. An einem Ort, an dem rein gar nichts passieren kann. Keine Jäger, keine Gewehre, nur wir und die Natur." Ich legte den Kopf schief.
Das klang ja schon vielversprechend."Den Kluane-Nationalpark."
Vor Schreck wurde mein Mund staubtrocken. Okay das war die letzte Möglichkeit, an die ich gedacht hatte. Meine letzte Begegnung mit den angeblich zahmen Dallschafen auf einer kleineren Tierauffangstation rutschte in den Vordergrund meiner Erinnerungen. Diese Tiere hatten mich in meiner Kindheit den halben Berg wieder hinunter gejagt, nachdem ich eines der Lämmer streicheln wollte. Meine Eltern hatten sich halb tot gelacht, als die Mama des Lammes ihren Einspruch erhoben hatte. Unmerklich erschauderte ich.Der Nationalpark war gute zwei Stunden Autofahrt von hier entfernt und damit nicht so weit entfernt, wie ich es erst angenommen hatte.
"Die Nationalparks in ganz Kanada sind Rückzugsorte für die Gestaltwandler. Da sich dort kein Rudel ansiedeln darf, können wir uns dort im ganzen Park bewegen, ohne, dass es zu Revierkämpfen oder anderen Auseinandersetzungen kommt. Die komplette Ein- und Ausreise von Gestaltwandlern wird von einer kleinen neutralen Adlergruppe kontrolliert. Sie sind sozusagen die Ranger des Parks.", erklärte er, während ich an der Decke herumnestelte, die auf meinem Sessel lag.
Ich nickte leicht.
Ich war neugierig, wie das Ganze ablaufen würde. Aufregung kam in mir langsam auf. Es war als würde die ganze aufgestaute Energie, sich wie eine Welle wieder aufbauen wollen. Mit aller Kraft versuchte ich dies zu unterdrücken.
Ryan bewegte sich leicht.
"Ich habe vor, das Rudel mitzunehmen. Sie müssen sich wieder abregen. Dabei würde ich dich den anderen gern vorstellen. Sie sind schon ganz neugierig auf dich." Ich hielt in meinen Bewegungen inne.
Das konnte ich mir vorstellen und wenn ich ehrlich war, war ich es auch. Jasminas Warnung ging mir wieder durch den Kopf. Sie würden meine Position noch nicht akzeptieren. Wie vielen würde ich dann gegenüberstehen?Ich musste üben, wie man richtig kämpft. So viel stand fest.
Als schien Ryan zu ahnen, was in meinem Kopf vor sich ging, nickte er.
"Ich glaube, meine Schwester hat Recht. Wir sollten dir das Kämpfen richtig beibringen, bevor du auf die anderen triffst. Sonst darf ich dich wieder zusammenflicken." Als ich blass wurde, grinste er. Die würden mich doch wohl nicht so zerlegen wollen?
Als ich ihn ungläubig ansah, verwandelte er sich. Ryan beobachtete mich, bevor er begann unruhig auf und ab zu gehen. Ich verstand die Aufforderung und bewegte mich leicht.
Bevor ich mich allerdings verwandeln konnte, hing er schon in meinem Arm, wie Jasmina es getan hatte. Seine Zähne bohrten sich in mein Fleisch. Ich unterdrückte ein Wimmern und meine Tränen und als ich instinktiv versuchte ihn loszuwerden, veränderte sich etwas in seinem Blick.
Ab da wusste ich, dass es kein Spiel mehr war.
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Secret of the Timberwolves
WerewolfNie hätte ich einen Fuß in diesen Wald gesetzt, wenn ich damals das gewusst hätte, was ich heute weiß. Nie hätte ich vermutet, dass sie mich als Beute auswählen. Doch heute, am dritten Tag, nach meinem Krankenhausaufenthalt, bemerkte ich es erneut...