6.Kapitel

444 30 3
                                    

Auf meinen Armen bildete sich eine steile Gänsehaut, als das Geräusch, das mich bis in meine Alpträume verfolgte, in mein Bewusstsein drang.
Ich ließ den Kugelschreiber fallen und mein Blick schrak automatisch zu dem großem Panoramafenster, das gleichzeitig als Schiebetür hinaus zur zweiten Veranda führte. Durch das Fenster konnte ich beobachten, wie ein einzelner Wolf die Treppe hinauflief, mich kurz ansah und sich vor dem Fenster an die Scheibe legte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Sein Fell drückte gegen das Glas und nach einer kurzen Zeit war die Scheibe auf seiner Seite des Fensters beschlagen. Gebannt beobachtete ich ihn und blieb bei der Tatsache, dass er sich auf meiner Terasse zusammengerollt hatte, erstaunlich entspannt. Ich brach nicht in Hysterie aus. Den Kopf hatte er auf die Vorderpfoten gelegt und sah zum Wald hin. Kurz kontrollierte ich mit Blicken, ob die Tür richtig zu war und ob alle Fenster im Erdgeschoss geschlossen waren, bevor ich aufstand und die Hefte zusammenpackte. Ich behielt dabei den Wolf, der nicht weit von mir entfernt lag, stets im Auge. Als ich im Zimmer umherlief, zuckten seine Ohren in meine Richtung, doch er sah kein einziges Mal zu mir. Er strahlte Ruhe aus, als wolle er nicht, dass ich mich durch seine Anwesenheit bedroht fühlte. Als schien er einfach nur auf meiner Terasse ruhen zu wollen. Misstrauisch beäugte ich ihn ein letztes Mal, bevor ich unten das Licht ausschaltete und die Treppe hinaufstig. Es glich einem Horrorfilm, allein im Dunkeln die Treppe hinaufzulaufen und dabei genau zu wissen, dass man nicht wirklich allein war.

An Emilys Zimmertür blieb ich kurz stehen, um mit ihr über den Wolf zu reden, doch als ich nur Schnarchen hörte, lief ich weiter.
Im Bett starrte ich noch eine ganze Weile an die Decke und grübelte, während die Wölfe draußen im Wald zu heulen begannen.
Mein Fenster war gekippt und so konnte ich die unterschiedlichen Stimmen der Tiere genau hören.
Ich war kurz vor dem Einschlafen als auf einmal ein leises Heulen ganz nah ertönte und ich mir sicher sein konnte, dass es der Wolf auf meiner Veranda gewesen war. Er hatte eine ruhige, tiefe Stimme, die mir irgendwie den Rest gab und ich einschlief.

"Verflucht, Neve!"
Ich schrak hoch.
"Was ist los?", rief ich und rieb mir die Augen.
"Hättest du mich nicht wecken können?", antwortete Emily hektisch und polterte durch den Flur.
Verdutzt sah ich auf die Uhr.
Halb acht. Emily hatte noch knapp eine viertel Stunde, um sich fertig zu machen, bevor sie losfahren musste.

"Wieso muss ich dich wecken? Du hast doch einen Wecker und was kann ich dazu, dass du ihn nicht hörst. Ich will auch mal ausgeschlafen."
Ich bekam keine Antwort und hörte nur, wie sie hektisch die Treppe hinunterrannte.
Langsam schälte ich mich aus dem Bett und betrachtete mein Bein, als ich auf der Bettkante saß. Es war immernoch so dünn, wie gestern. Es sah aus, als würde es gar nicht zum Rest meines Körpers zu passen.
Ich schnappte mir meine Gehhilfen und begann das Bein etwas zu belasten, während ich ins Bad ging.

Gerade als ich fertig war und hinunter zu Emily gehen wollte, hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel und kurz darauf ein Wagen gestartet wurde.
Langsam stieg ich die Treppe hinunter und zur Kaffeemaschiene. Emily hatte in ihrer Eile noch schnell eine Kanne gemacht und hatte die leere Tasse auf dem Tresen stehen lassen.
Mit meiner eigenen Tasse in der Hand ging ich zum Fenster an dem letzte Nacht der Wolf gelegen hatte. Graubraune Haare hingen an der Scheibe und ein paar Pfotenabdrücke waren im Schnee zu sehen, den der Wind auf das Holz gedrückt hatte.
Doch irgendetwas stimmte an diesem Bild nicht. Irgendetwas war merkwürdig.
Der Wolf musste mehrmals schon auf meiner Veranda herumgelaufen sein, denn es waren einige Pfotenabdrücke zu sehen und ein paar kleine Blutstropfen waren im Schnee zu sehen. Ich folgte der Blutspur mit den Augen. Vor der Treppe lag etwas im Schnee. Ich sah genauer hin, um identifizieren zu können was es war. Es war zu klein, um ein Hirsch oder Wolf sein zu können, also tippte ich auf einen Hasen. Ich beschloss ihn dort liegen zu lassen, damit der Wolf noch etwas zu fressen hatte, falls er wiederkommen würde.

Und das tat er am Abend auch, kaum, als Emily sich verabschiedet und hingelegt hatte.

Forschend sah er erst mich und dann den Hasen an, bevor er ihn anhob und ihn hoch auf die Veranda trug, um ihn dort vor der Fensterscheibe abzulegen und um mich dann erwartungsvoll anzustarren.
Irritiert und gleichzeitig fasziniert, von dem Tier, schüttelte ich den Kopf. Es schien, als wolle er mir den Hasen anbieten, als sei er nur ein Schäferhund, der seinem Herrchen den Fasan präsentieren wollte, den er gefangen hatte.
Als er bemerkte, dass ich den Hasen nicht haben wollte, legte er sich hin und machte sich an dem Tier zu schaffen. Knochen knackten entsetzlich, während der Wolf seinen Spaß damit hatte und doch beobachtete ich das Szenario gebannt. Irgendwie juckte es mich in den Fingern, einfach hinauszugehen und dem graubraunem Wolf genauer beim Fressen zuzusehen. Irgendetwas sagte mir, dass mir in seiner Gegenwart nichts passieren konnte und dass ich beruhigt in seiner Nähe bleiben konnte, doch schaltete mein Verstand sofort wieder auf Logik um. Es war ein wildes Tier, das sich auf meiner Terasse aufielt und das man da besser die Tür nicht öffnete.
Er lag dort und fraß entspannt den Hasen, während ich hier drin saß und ihn dabei beobachtete. Völlig fasziniert stand ich auf, schlich zum Fenster so gut ich konnte, um das Tier nicht zu verjagen oder zu erschrecken und setzte mich auf den Boden vor dem Fenster.
Es war nichts zwischen uns, außer der Scheibe. Kein Abstand, nur eine Scheibe. Er hatte mich nicht bemerkt, als ich mich gesetzt hatte.
Seine Muskeln spannten sich jetzt sichtlich unter seinem Fell und er ließ von dem Hasen ab. Langsam drehte der Wolf den Kopf, sprang so plötzlich auf, dass ich zusammenzuckte, und rannte einige Meter weit weg. Vom Fuß der Treppe aus, starrte er schockiert zu mir hinauf, während ich nicht weniger erschrocken in seine Augen sah. Etwas war in ihnen bei seinem Sprung geschehen. Als wäre ein Schatten durch die Iris gegangen.
Sein Atem ging hektisch,während ich ihn forschend beobachtete.
Sichtlich misstrauisch kam er zurück auf die Veranda und setzte sich mir gegenüber.
Mit schiefgelegtem Kopf sah er mich an, als schien er nicht zu wissen, wie er mit der Situation umgehen sollte.

Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen und einander forschend betrachteten. Vom erstem Wolfsheulen der Nacht wurde ich aus den Gedanken gerissen. Er sah zum Wald hin, in dessen Schatten seine Rudelmitglieder waren und einander riefen. Wie zum Protest legte er sich auf das Holz und machte sich weiter am Hasen zu schaffen, der zum größten Teil nur noch aus Knochen bestand. Allerdings schaffte er es nur zum Teil das Rudel zu ignorieren, da seine Ohren Richtung Wald zeigten.
Ich spürte, wie ich immer müder wurde, aber ich wollte noch nicht nach oben gehen, da ich wissen wollte, ob es seine Stimme war, die ich in der vergangenen Nacht gehört hatte. Ständig fielen meine Augen zu, doch ich bemühte mich, wach zu bleiben. Ich wusste gar nicht mehr, wie ich an das Kissen kam, aber schlussendlich gab ich der Müdigkeit nach und schlief auf dem Boden ein.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt