|Kapitel 9 - Erinnerungen|

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Es regnet in Strömen und es ist bitterkalt. Die großen Tropfen klatschen mir rücksichtslos ins Gesicht, während ich verzweifelt die mittlerweile glitschigen Stufen der Feuertreppe herunterschlittere. Auf der vorletzten stolpere ich, rutsche aus und schlage mir das Knie blutig. Ein scharfer Schmerz durchzuckt mich und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich schreie. Immer wieder schreie ich dieses eine Wort.
Doch nicht vor physischen Schmerz, sondern vor seelischem, der um einiges schwerer wiegt.

Ich zittere bereits am ganzen Leib, als ich endlich den gepflasterten Boden erreiche, der durch den sintflutartigen Regen vollkommen mit Matsch bedeckt ist. Erneut rufe ich nach der Person, doch meine Worte werden vollkommen verschluckt.
Sie hört mich nicht. Sie dreht sich nicht nach mir um. Sie geht einfach weiter. Ich sehe nur noch ihre kaum mehr wahrnehmbare Silhouette.
Verzweiflung keimt in mir auf, als sie um eine Hausecke biegt und ich kaum mehr folgen kann. Ich stütze mich an der Fassade ab und schleife mich mühsam vorwärts. Die Kraft scheint mich mit jedem weiteren Schritt zu verlassen. Sie strömt nur so aus meinem Körper, vermischt sich mit der mich umgebenden Nässe und fließt in den Rinnstein.

Ich keuche erschöpft und das, obwohl ich keine hundert Meter zurückgelegt habe. Vermutlich liegt es an den kleinen rosanen Tabletten, die sie mir gegen das Fieber gegeben hat. Auch Skara muss welche nehmen, seit dem das Fleckfieber in unserem Distrikt grassiert und meine Schwester und ich uns angesteckt haben.
Noch immer bin ich wackelig auf den Beinen und fühle mich schwach. Wahrscheinlich bekomme ich auch wieder Fieber, doch die Hoffnung sie von ihrem Gehen abzuhalten treibt mich weiter vorwärts. Meine Kehle fühlt sich bereits rau und überstrapaziert von meinem Geschrei an, da ich gegen das laute Trommeln des Regens ankämpfen muss, als ich es endlich um die Ecke schaffe.

Meine Hoffnung zerfällt wie ein Kartenhaus, als mich eine leere Gasse empfängt. Ich bin bereits zu spät. Sie ist nicht mehr da. Nicht mehr bei uns.
Ich breche in Tränen aus und falle gleichzeitig auf die Knie, da meine Beine den Dienst verweigern. Schlamm spritzt mir ins Gesicht, doch das ist mir egal. Es ist alles bedeutungslos ohne sie. Skara, ich und die ganze Welt.
»Mom«, entkommt es mir erstickt, während mir bewusst wird, dass ich sie für immer verloren habe. Sie hat nicht gescherzt, als sie sagte, sie würde gehen. Sie hat nicht gelogen, als sie sagte, ich müsse mich ab jetzt allein um Skara kümmern. »Warte!« Das letzte ist kaum noch ein Flüstern.

Wie betäubt bleibe ich sitzen und starre die menschenleere Straße entlang. Ich bin unfähig mich zu rühren, kann nur hilflos dabei zusehen, wie meine gesamte Welt in tausend Scherben zerbricht.
»Lyra?« Die hohe Piepsstimme dringt unvermittelt an meine Ohren, sodass ich erschrocken zusammenfahre. Ich wische mir die Tränen von den Wangen uns blicke direkt in die großen Kulleraugen meiner Schwester. »Warum bist du so traurig?«, fragt sie unschuldig und umfasst ihren kleinen Kuschelhasen fester, der klatschnass ist. Mutter hat ihn ihr zum vierten Geburtstag geschenkt.

»Lyra, wo ist Mommy?«, erkundigt sie sich als nächstes panisch und ich sehe wie ihr Tränen in die Augen steigen. Die Straße ist noch immer leergefegt. Wir sind die einzigen. Mir wird in diesem Moment klar: Mom wird nicht zurückkommen. Nie wieder. Skara hat nur noch mich. Und es wird ihr nicht helfen, wenn ich zusammenbreche. Außerdem habe ich Mom ein Versprechen gegeben.
»An einem besseren Ort«, antworte ich entschlossen und ohne jede Bedenken. »Dort scheint immer die Sonne und man kann das Meer rauschen hören. Nachts kann man die Sterne sehen.«

»Das Meer und die Sterne?«, säuselt sie und ergreift meine ausgestreckte Hand. Ich nicke, obwohl es mir einen Stich versetzt.
»Das klingt schön. Wann kommt sie zurück?« Ich unterdrücke ein Schluchzen und lächele sie an, um ihr auch noch die letzte Angst zu nehmen.
»Wenn du alt genug bist, um die schwere Reise zu überstehen gehen wir zu ihr. Sie muss nicht zurückkommen.«
»Können wir dann auch zum Meer gehen und uns die Sterne anschauen?«, springt sie auf meine Lüge an, während ich einen festen Entschluss fasse. Skara strahlt über beide Ohren.

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