|Kapitel 36 - Zwei|

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»Nimm deine Hände hoch, Lyra«, fordert mich Ryan ruhig auf. »Bitte.« Ich denke nicht daran. Alles in mir ist kurz davor zu zerspringen und sich in seine Bestandteile aufzulösen. Meiner Stimme ist davon jedoch nichts anzumerken. Sie klingt in der Stille wie ein Peitschenschlag.
»Ist das war? Bist du wirklich dafür verantwortlich, dass das Virus wieder grassiert?« Ich mache einen Schritt auf ihn zu, denn ich möchte ihn bei seiner Antwort in die Augen sehen können. Wenn das wirklich wahr ist, wenn er das wirklich getan hat, dann bringe ich ihn um. Auf der Stelle!

»Bleib stehen. Zwing mich nicht dazu, dich zu töten.« Wieder ignoriere ich ihn und verringere den Abstand zwischen uns. Ich muss es einfach wissen. Kenshins und Skaras blutbelekte Gesichter blitzen vor meinem inneren Auge auf. Wer sagt mir, dass sie gesund sind? Wer sagt mir, dass sie überhaupt noch am Leben sind? Bei dem Gedanken zieht sich das kalte Band fester um meinen Magen zusammen.
»Antworte mir! Hast du das getan? Ist das alles dein Werk?«
Woran erkennt man einen schlechten Menschen?

»Lyra ...«
»Sag schon!«, schreie ich ihn an und überwinde die letzten Meter, um ihn am Kittel zu packen. Wir stehen uns nun direkt gegenüber, sind uns so nah, dass ich seine raschen Atemzüge und den Schweiß auf seiner Stirn sehen kann. Auge in Auge. Die Waffe zwischen uns. Er muss nur abdrücken und ich sterbe. Hinter mir brüllt Valerian irgendetwas, doch er existiert nicht länger. Wir sind nur noch zu zweit. Die zwei letzen Menschen auf der Welt. Man kann eine Stecknadel fallen hören, so sehr scheint uns die Stille zu verschlingen.

Die Sekunden ziehen sich eine schiere Ewigkeit in die Länge. Meine Hand an seinem Kittel ballt sich zur Faust und endlich schaut er mich richtig an.
»Antworte«, flüstere ich nachdrücklich, wobei so viel Schmerz in meiner Stimme mitschwingt, dass ich selbst überrascht bin. »Hast du das getan?« Ryan trifft seine Entscheidung.

Er lässt die SIG sinken und schüttelt den Kopf. Seine eisblauen Augen scheinen mir direkt in die Seele zu blicken.
»Habe ich nicht. Scheiße, natürlich nicht! Ich bin kein Verräter. Ich würde nie etwas tun, was Fenix verletzen könnte. Er ist der Einzige, den ich noch habe. Wenn ich ihn verliere, kann ich mir auch gleich selbst eine Kugel verpassen.« Ich nehme mir einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Versetze mich an den Tag zurück, als ich auf dem Marktplatz versucht habe ihn zu beklauen. Schließlich seufze ich und lasse meine zusammengeballte Hand sinken.
»Ich glaube dir.«

Verblüfft schießen seine Brauen in die Höhe, während Valerian einen Laut des Entsetzens ausstößt. Anscheinend haben beide mit mehr Misstrauen meinerseits gerechnet.
»Warum?« Die Frage kam von beiden Männern gleichzeitig, weshalb sie sich jetzt gegenseitig in Grund und Boden zu starren versuchen. Ich ignoriere sie.
»Woran erkennt man einen schlechten Menschen?«, stelle ich stattdessen eine Gegenfrage. Ryan zuckt die Achseln und auch Valerian scheint nichts erwidern zu können. Ich lächle und muss an Kenshin denken. Alles was ich weiß, hat er mir beigebracht. Unter anderem auch, wie man Freund von Feind unterscheidet.

»Im Grunde genommen ist es recht simpel«, erkläre ich. »Er schießt zuerst und fragt danach.« Ich kehre zu den Käfigen zurück und werfe Ryan einen letzten Blick über die Schulter zu. Gehe sicher, dass er mich ganz genau beobachtet. »In etwa so.« Valerian zuckt zurück, als er den schwarzen Gegenstand in meiner Hand sieht, doch er schafft es nicht mehr rechtzeitig sich in Sicherheit zu bringen. Die Kugel verlässt mit einem lauten Knall die Kammer und durchschlägt nicht minder laut das Schloss. Durch das Geräusch schreckt nun auch der Rotschopf in der mittleren Zelle auf. Seine Miene ist eine Mischung aus Entsetzen und nackter Angst, doch in seinen Augen liegt noch immer Nebel. Vermutlich hat man ihn vorher sediert. Ich drehe mich zu ihn herum und drücke ein weiteres Mal ab.

Die Luft ist erfüllt von Pulvergeruch, als Valerian mich an den Schultern packt und kräftig schüttelt. Ich weiß was er gleich sagen wird. Tja, ich liege richtig.
»Hast du vollkommen den Verstand verloren? Das war laut genug, um jede beschissene Wache im ganze Gebäude herzulocken!«, blafft er und wird im nächsten Moment grob von mir gestoßen. Ryan.
»Nimm sofort deine dreckigen Finger von ihr! Du solltest lieber dankbar sein, dass wir dich nicht hier verrecken lassen.« Wow. Dass Ryan so schnell seine Fassung zurückgewinnt und in den Angriffsmodus schaltet, habe ich nicht erwartet.
»Dankbar? Du dämlicher Wichser bist doch dafür verantwortlich, dass Gower und ich in diesem Loch sitzen und gefoltert wurden. Ganz zu schweigen davon, was sie in diesem Moment mit Dorcan anstellen!«

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