|Kapitel 42 - Gefühle|

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Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so unbeholfen und nackt gefühlt, wie in diesem Moment, in dem Ryan mich küsst. Seine Fingerspitzen streichen behutsam über meine Wange und ich kann die unbändige Hitze spüren, die von seinem gestählten Körper ausgeht. Noch nie war ich jemanden so nah, wie ihn und scheiße nochmal, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ob ich überhaupt etwas tun soll.
Mein Herz schlägt so schnell und laut in meiner Brust, dass ich fürchte, er könnte es hören. In einem kümmerlichen Versuch, ihn davon abzulenken und weil ich nicht weiß wohin sonst mit meinen Händen, lege ich sie in seinen Nacken.

Das ganze dauert keine weiteren zwei Sekunden, da löst er sich ruckartig von mir und stemmt sich hoch. Meine Hände fallen nutzlos herab. Ich starre atemlos und beschämt zu ihn auf und versuche nicht verletzt über seine Zurückweisung zu sein, doch ich komme mir bereits unendlich dumm vor.
»Tut ... tut mir leid«, bricht es aus Ryan hervor, »ich ... das hätte ich nicht tun sollen. Es war ein Versehen.« Das macht es nur noch schlimmer. Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen. Mich.

Ich setzte mich auf und zucke möglichst gleichgültig die Schultern. »Macht nichts. Kann mal passieren.« Ich bin überrascht, wie gefasst ich mich anhöre. Trotzdem ist es mir nicht möglich in sein Gesicht zu sehen. »Wir sind alle ein bisschen durcheinander.« Ich hebe die Maschinenpistole auf, reiche sie Ryan und mache mich dann auf denWeg zum Ausgang. Die Gewissheit nichts für die anderen Kids tun zu können, deren Identität vollkommen ausgemerzt wurde, schmerzt.

»Mag sein, aber ...«, murmelt Ryan und überrascht mich dann mit einer kurzen aber festen Umarmung von hinten. »Scheiße, ich hatte solche Angst, dass du tot bist. Gott sei Dank lebst du noch.« Ich reiße erschrocken die Augen auf und drücke seine Hand. Nie habe ich das Leben eines anderen über das meiner Schwester gestellt. Ich bin so froh, dass ich es heute getan habe. Denn trotz Zurückweisung bin ich in diesem Augenblick nicht mehr einsam.

»Natürlich lebe ich noch. Jemand muss deinen Arsch schließlich zu Lorcan schleifen.« Ich lasse ihn los, als eine weitere Explosion die Statik in Mitleidenschaft zieht. Wie viel Zeit bleibt uns noch? Fünf Minuten? Weniger? »Wir müssen verschwinden. In ein paar Minuten geht hier alles hoch.«
»Verstanden. Aber wenn wir das hier überleben, schuldest du mir eine Erklärung.«
»Du mir auch«, weise ich ihn zurecht und achte nicht weiter auf seine gerunzelte Stirn. Über den USB-Stick können wir später streiten, jetzt wo ich sicher bin, dass Madeleine die Wahrheit gesagt hat.

Wir sprinten geradewegs zum Treppenhaus. Ich nicke Ryan zu und stoße dann die Tür auf. Er ziehlt und ich bereite mich schon auf den kommenden Kugelhagel vor, doch nichts passiert. Es ist leer. Nur das beunruhigende Rot der Notbeleuchtung begrüßt uns. Noch eine Etage.
»Weiter. Wir müssen rauf zum Dach.«
»Zum Dach? Von dort gibt es kein Entkommen. Wenn wir leben wollen, müssen wir nach unten und zwar schnell, bevor wir am Qualm ersticken«, widerspricht der blonde Mann energisch und deutet nach unten, von wo langsam Rauch nach oben dringt. Anscheinend ist die Sprinkleranlage vor geraumer Zeit ausgefallen.
»Nein, wenn wir leben wollen dann müssen wir hoch! Das Feuer breitet sich zu schnell aus.«
»Tsk.« Er beißt sich mit grimmiger Miene auf die Unterlippe.

»Ryan, ich bitte dich, mir zu vertrauen. Nur dieses eine Mal. Bitte.«
Die nächste Sprengladung geht hoch, die uns beinahe von den Füßen reißt. Hitze und weiterer beißender Qualm dringt zu uns durch. Unter uns scheint gerade alles in Flammen aufzugehen. Und die kommen unweigerlich näher. Keine Zeit mehr zum zögern.
Ryan greift nach meiner linken Hand und wir stürmen gemeinsam die Treppe hinauf. Meine Rippen schmerzen bei der stärkeren Belastung, doch ich beiße die Zähne zusammen.

Ryan wirft mir einen raschen Blick über die Schulter zu und lächelt. »Ich vertraue dir, Lyra. Du hast mir das Leben gerettet.« Ja, das habe ich. Doch für wie lange?

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