|Kapitel 33 - Fünf|

477 39 0
                                    

Präsidentin Hemingways Auftreten ist voller Autorität und Professionalität, als sie geübt in die Runde blick. Allein diese starke Ausstrahlung lässt es binnen Sekunden still werden. Die Anwesenden starren die blonde Frau gebannt und mit freudiger Erwartung an. Sie scheinen förmlich den Boden unter ihren Füßen anzubeten, als wäre sie Gott und nicht das abscheuliche Monster, dass die Gesellschaft gespalten und in fünf Fraktionen eingeteilt hat.
Aber auf der falschen Seite des Zauns ist es immer leichter Kritik zu üben, als im Schlaraffenland selbst. Im äußeren Sektor gibt es keine Propaganda, die unsere Lage beschönigt. Wir können unsere Augen nicht vor der Wahrheit verschließen, so wie die inneren Stadtbewohner. Wir können das Elend nicht verdrängen, wenn wir jeden Tag mittendrin stehen und keinen Ausweg sehen.

»Sehr geehrte Damen und Herren, ich bedanke mich, dass sie alle so zahlreich erschienen sind. Wie sie bereits wissen, gibt es heute Abend wichtige Dinge zu besprechen, die den Lauf der nächsten Monate maßgeblich beeinflussen können …«
Hemingways Stimme verschwimmt für mich mit jeder weiteren Silbe zu einem unzusammenhängenden Gemurmel, obwohl sie klar und deutlich zu verstehen ist. Ich messe ihr nur keine große Bedeutung zu. Wie zu erwarten schafft sie es stundenlang zu reden, ohne etwas Wichtiges Preis zu geben. Die übliche Masche von unseren Politikern. Reden, aber nicht handeln.

Verärgert von diesem sinnlosen Geschwatze wende ich mich ab. Es wird Zeit für Phase eins.
Ich sehe mich aufmerksam um und entdecke die gesuchte Person ganz am Rand des Geschehens. Ryan, der seine Begleitung mittlerweile abgehängt zu haben schein, nickt mir von der gegenüberliegenden Seite des Saals unmerklich zu. Wir setzen uns gleichzeitig in Bewegung, schieben uns möglichst unauffällig durch das Gedränge, wobei ich immer wieder zur Bühne linse. Raphael beobachtet mich mit Argusaugen, doch unsere Zielperson sieht noch immer zum Podium. Dabei scheint sie mit ihren Gedanken meilenweit entfernt. Perfekt.

Mit jedem weiteren Schritt werde ich unsicherer auf den Beinen, rempele mit weichen Knien gegen heiße Körper und fahre mir mit schweißnassen Fingern über die Stirn. Empörte Laute folgen mir untermalt mit genervten Gestöhne, als ich mich durch die Menge arbeite. Der Ausgang scheint meilenweit entfernt. Schließlich sind es nur noch zwei Meter. Ich stolpere, als die Muskeln in meinen Waden ihren Dienst quittieren. Das Glas Wasser rutsch mir aus der Hand und zerschellt wie ein Donnerschlag auf dem nackten Steinboden. Ich schließe die Augen, doch der Aufschlag kommt nicht. Was zum Teufel …?

Starke Arme fangen mich ab und pressen mich gegen eine muskulöse Brust, bevor ich der Länge nach hinfallen kann. Ich rieche den weiten Ozean und weiß, noch bevor meine Lider flattern, dass es Ryan ist.
Nur nebenbei bekomme ich mit, wie das Staatsoberhaupt die Rede unterbricht und die Leute einen Kreis um uns bilden, dann liegt schon die kühle Hand von Ms Bright auf meiner Stirn. Sie ist ein einziger lachsfarbener Fleck.
»Was ist mit dir?«, fragt sie besorgt. Ich verziehe qualvoll das Gesicht und versuche hektisch die Tränen wegzublinzeln, die mir die Sicht verschleiern. Dann presse ich mir die Hände gegen den Kopf und schluchze: »Es tut so weh … es soll aufhören!«

Ms Bright scheint alarmiert. Sie fühlt meinen Puls und leuchtet mir mit irgendwas ins Gesicht. Ich zucke zurück, wobei ein unmenschlicher Laut reines Schmerzens meine Kehle verlässt. Dann fließen mir die Tränen ungehindert über das Gesicht. Ryan schlägt das helle Licht beiseite und meine Schreie lassen etwas nach. »Lassen Sie das«, knurrt er. Sie ignoriert seinen Einwand einfach.

»Ihr Puls rast«, erklärt Madeleine ernst, aber gefasst, »außerdem reagiert sie empfindlich auf Licht.«
»Was hat sie? Was ist los?« Die Menge wird zunehmend unruhig. Hemingway bittet um Ruhe. Mein Kopf ist gefüllt mit Rasierklingen.
Ich schlage mir mit der Faust gegen die Stirn, versuche mich aus Ryans Griff zu befreien, doch ich schaffe es nicht. Meine Hände werden mir weggezogen, damit ich mich nicht länger selbst verletze.

We are never SafeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt