|Kapitel 44 - Wunden|

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»Alles in Ordnung bei dir?«
»Mir geht es gut«, lüge ich und folge Ryan bis zum Ende des Rohres. Die Wahrheit ist, dass ich am Ende meiner Kräfte bin und kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen kann. Mir ist leicht schwindelig und meine Rippen brüllen vor Schmerz durch die zu frühe und übermäßige Belastung, trotzdem lasse ich nicht nach. Nicht jetzt. Das wäre der schlechteste Zeitpunkt überhaupt.
Wir kriechen schon über fünf Stunden durch die Kanalisation, da immer wieder Gänge verschüttet oder blockiert sind und wie Umwege in Kauf nehmen müssen. Wenigstens hatte ich derweil genug Zeit, Ryan über die vergangenen Stunden vor seiner Befreiung aufzuklären. Mittlerweile müsste die Sonne aufgegangen sein, auch wenn hier unten nichts davon zu bemerken ist. Wie gern ich sie doch jetzt sehen würde.

Ich frage mich, wie Ryan in diesem ganzen Tunnelchaos noch nicht den Überblick verloren hat. Entweder er hat einen Lageplan im Gedächtnis abgespeichert oder wir irren in Wirklichkeit ziellos umher. Ich hoffe es ist nicht letzteres.
»Wir sind bald da, keine Sorge. Das Schlimmste ist bereits geschafft.« Ryans Lächeln ist heller als jeder Sonnenstrahl, als er über die Schulter zu mir schaut. Wieder entsteht diese eigenartige Wärme in meiner Brust, die ich nicht recht deuten kann und die schließlich zu Schmerzen beginnt, umso länger ich den Blickkontakt aufrecht erhalte. Seit ich Ryan begegnet bin, habe ich dieses seltsame Gefühl. Was ist nur mit mir los?

»Ähm, Ryan. Sag mal, was hat es eigentlich mit diesem-«, versuche ich das Thema zu wechseln, werde aber zischend von ihm unterbrochen.
»Sei bitte kurz leise. Ich glaube, wir sind nicht die Einzigen hier unten. Sieh, Licht.« Ich schaue angespannt in die Richtung, in die Ryan zeigt und erkenne tatsächlich einen kleinen Lichtkegel. Kurz darauf sind Stimmen zu vernehmen. Soldaten, die uns überwältigen sollen? Ich konzentriere mich auf eine ruhige und gleichmäßige Atmung, während ich sorgfältig dem Gesprächsverlauf folge.

»... zur Hölle ist der eigentlich abgeblieben?«
»Meinte, er würde sich kurz erleichtern.«
»Kurz? Der ist schon 'ne Viertelstunde weg. Wie lang kann man eigentlich brauchen, um 'ne Runde pissen oder einen Abseilen zu gehen?!«
»Wortwahl, Connor!« Es folgt eine kurze Pause, erfüllt von genervten Stöhnen, in der wir uns näher an sie heranschleichen. Allem Anschein sind sie zu viert, wobei sich Nummer vier momentan abgesetzt hat. Drei gegen zwei. Das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Ein entscheidender Vorteil. Ich tausche mit Ryan einen kurzen Blick. Er nickt und ich lasse mein Katana langsam aus der Scheide gleiten.

»Oh, verzeihet vielmals, reizende Jungfer. Mich dünkt der edle Recke ist schon ein Weilchen bei den Stallungen verschollen. Man möchte nach ihm Suchen lassen.«
»Wirklich witzig.«
»Nein, wirklich witzig ist: dass wir ohne diesen Scheißkerl hier unten jämmerlich verrecken werden! Keiner von uns kennt den verfluchten Weg hier raus! Oder wie siehst du das, Brex?«
»Kein Kommentar.«
»War klar. Etwas Konversation zu betreiben, wäre ja auch zu viel verlangt.«
»Gehört nicht zu meinem Job.«
»Setz dich hin und sei ruhig, Connor. Wir warten auf ihn, vorher geht hier niemand.«

»Und woher willst du wissen, ob der Pisser wiederkommt? Ich sage dir, der hat sich verzogen, sobald er die Chance dazu hatte aus der Inneren Stadt abzu-«
»Fresse halten und setzen du abscheuliches Aas oder ich schwöre dir, du pinkelst in Zukunft im Sitzen!«
»Wo ist denn deine tolle Wortwahl geblieben? Und du sagst jetzt auch nichts, oder wie?« Stille.
»Ahhh! Ich werde mit euch beiden noch wahnsinnig!«

»Ich denke, ich kann da Abhilfe schaffen«, unterbricht Ryan den angeblichen Connor gelassen und zielt direkt auf dessen behelmten Kopf. Dem Mann verschlägt es vor Schreck die Sprache.
Wie bereits vermutet, sind alle drei uniformierte Soldaten der Regierung, die eindeutig mehr auf ihre Umgebung achten sollten. Trotzdem frage ich mich, wie sie in das Tunnelsystem eindringen konnten. Vieleicht pures Glück?
»Was zum? Wer seid ihr?« Die rothaarige Frau, die um einiges jünger ist, als auf das ich sie geschätzt hätte, hält auf dem Weg zu ihrem Waffengürtel inne, als ich mein Schwert auf sie richte. In irgendeiner Weise kommt sie mir bekannt vor, dabei bin ich sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Der stumme Kollege - ein regelrechter Koloss - macht sich nicht mal die Mühe aufzusehen. Er wirkt im Schein der vier Petroleumlampen, wie eine Statue. »Keine falschen Bewegungen, kapiert? Ihr seid nicht schneller, als wir. Legt eure Waffen ab und schiebt sie in unsere Richtung.«

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