|Kapitel 50 - Hölle|

498 36 2
                                    

Das erste, das ich wahrnehme, als wir ins Freie treten, ist der abscheuliche Gestank, der durch die Straßen weht und sich in Haaren, Kleidung und Nase festsetzt. Das zweite, die pralle Sonne, die zu ersterem ein gutes Stück beiträgt, sich zwischen den engen Häuserfronten staut und die Umgebung unerträglich heiß werden lässt. Bereits nach wenigen Minuten steht mir der Schweiß auf der Stirn. Fenix und Ryan ergeht es nicht anders. Ich werfe einen Blick in den strahlend blauen Himmel und denke mir, dass diese sommerliche Kulisse nicht im geringsten zu dem Grauen passt, das uns umfängt. Sie ist falsch und trügerisch. Eigentlich müsste es stürmen, regnen oder schneien, um den vielen Toten gerecht zu werden. Die Stadt müsste in einen dichten Nebelschleier gehüllt sein, um den wandelnden Leichen den Weg zu ebnen. Doch nichts ist unpassender wie der Sonnenschein.

»Ist es euch aufgefallen?«, erkundigt sich Fenix und deutet weit in die Ferne. Ich kann unseren Marktplatz kaum erahnen. Schwarze Rauchwolken Quellen auf und zerstören zumindest dort das friedliche Ambiente.
»Ja, sie verbrennen die Leichen. Daher auch der Gestank.« Fenix nickt und führt uns dann auf die leergefegte Hauptstraße, auf der sonst immer Hochbetrieb herrscht. Heute ist sie komplett ausgestorben.
Bedrückt denke ich an den kleinen verdreckten Jungen zurück, den ich erst vor mehr als einer Woche mit Kenshin gesehen habe. Ob sein Gesicht noch immer so ernst und müde für sein Alter ist? Ob er noch lebt?

»Wir sollten so schnell wie möglich auf die Dächer«, schaltet sich Ryan ein und deutet mit einem Nicken in die Seitengasse, in der Artanis Scherge erst letztens eine freudiges Flötenspiel hatte. Heute ist keine Prostituierte anwesend, die gegen eine billige Droge Männer mit ihrem Körper bedient. Stattdessen erkenne ich geronnenes Blut, das sich in jede nur erdenkliche Himmelsrichtung ausgebreitet hat. Inmitten des Spektakels liegt ein einzelner und mit Bissspuren übersäter Arm. Ich versuche nicht mal zu hinterfragen, was mit dem restlichen Gliedmaßen passiert ist, kann es mir aber denken, wenn die Essenslieferungen vor geraumer Zeit eingestellt wurden. Das Lorcan noch ein ganzes Lager zur Verfügung gestanden hat, macht mich unsagbar wütend.

»Da stimme ich meinem Bruder ausnahmsweise einmal zu. So wie wir aussehen, sind wir nicht nur für Echos die perfekte Beute.« Es folgt eine schwere Pause, dann fügt Fenix leise hinzu: »Sie lauern hinter jeder Ecke. Allein hast du kaum eine Chance.« Ich schlucke schwer und folge ihnen auf ein Dach. Während ich die Leiter erklimmen, bemerke ich die vielen verbarrikadierten Fenster, die hauptsächlich mit Brettern gesichert wurden. Ab und zu glaube ich Augenpaare zu erkennen, die uns beobachten.
»Alles klar bei dir? Soll ich deinen Rucksack nehmen?« Ich sehe zu Ryan der mich mit zusammengekniffenen Augen beäugt und bereits den Rucksack, der für Skara vorgesehen ist geschulter hat.

Er muss bemerkt haben, dass ich lediglich flache Atemzüge nehme. Meine angeknackste Rippe brüllt vor Schmerz, seitdem das Adrenalin abgeklungen ist. Außerdem macht mir die Hitze schwerer zu schaffen, als ich zugeben werde. Ich bringe ein schmales Lächeln Zustande und wische mir erneut über die Stirn. »Sicher. Ich brauche keine Hilfe.«
Ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Doch er hält den Mund und sieht mit verkrampfter Miene nach vorn.

»Wie weit ist es noch?« Fenix dreht sich lächelnd zu mir um, was dazu führt, dass er fast in den Tod stürzt. Ryan, der anscheinend bestens mit den Macken seinen jüngeren Bruders vertraut ist, hält ihn seufzend am Hemd fest und somit von seinem Selbstmordversuch ab.
»Whoa! Hätte glatt schiefgehen können.« Leichtfüßig, den Mund zu einem strahlenden - und vor allem aufrichtigen - Lächeln verzogen und als wäre nichts geschehen, springt er über die Dachkante. Seine blonden Haare, angestrahlt von der Sonne, schimmern wie flüssiges Gold. In dem Augenblick bin ich mir sicher, dass so pure Glückseligkeit aussehen muss. »Er ist zufrieden«, wird mir klar. Mit sich, seinem Bruder, der Welt. Außerdem hat er das Talent, andere mit seiner munteren Art anzustecken. Denn selbst um Ryans Mund hat sich dieses unverschämte Lächeln gebildet.

We are never SafeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt