|Kapitel 15 - Misstrauen|

697 64 1
                                    

Die Sonne steht schon tiefer am Himmel, als wir das Gebäude des DCD verlassen. Es muss bereits Nachmittag sein. Also habe ich über vierzehn Stunden geschlafen. Keine Wolke trübt den Horizont, doch das hat nichts zu bedeuten. Ich weiß wie schnell das Wetter hier umschlagen kann.
»Wie ist dein erster Eindruck bis jetzt?«, erkundigt sich Raphael, sobald wir den Gehweg entlang laufen. Smalltalk. Darin war ich noch nie gut. Na ja, bis jetzt musste ich das auch nicht können. Ich sehe mich prüfend um. Die Gebäude sind imposant, schrauben sich meilenweit in Höhe und wirken gut in Schuss. Nirgends sieht man eingeschlagene Fenster und Graffiti. Auch auf dem Boden türmt sich kein Müll und Unrat, wie es in den äußeren Sektoren Gang und Gebe ist. Selbst die Luft kommt mir reiner vor.

»Es ist sauber und geordnet. Außerdem hat noch niemand versucht mich umzubringen. Ich schätze, es ist ganz Ok.« Ich zucke die Achseln.
»Wow. Ich hätte eher mit so etwas wie, was sagt die Jugend heutzutage?, voll krass, gerechnet.« Er lacht wieder. Irgendwie ist es mir vertraut, obwohl ich ihn nicht kenne. Es fühlt sich an, als wäre das in einem anderen Leben gewesen.
»Ich hatte keine Jugend«, flüstere ich. Dabei denke ich an das knallharte Training mit Kenshin, die kräftezehrende Schinderei für Lorcan und die Undankbarkeit von Skara. Skara. Ich habe alles für sie getan und tue es auch noch jetzt. Doch das ist bedeutungslos. Sie hasst mich. Kenshin hasst mich. Und alle anderen, die mich näher kennenlernen hassen mich ebenso. Ich bin allein auf der Welt. Dazu verdammt, niemals irgendwo dazuzugehören.

Die gute Laune von Farrang gefriert mit einem Schlag.
»Das tut mir leid, mein Schatz. Wirklich. Ich wünsche, ich hätte dir das alles ersparen können.« Er klingt tieftraurig und aufrichtig. Trotzdem steht mir die Wahrnung meiner Mutter mit Ausrufezeichen vor Augen. Du darfst ihm nicht trauen. Er beherrscht es wie kein anderer den menschlichen Verstand zu manipulieren. Egal, was er dir sagt und wie er dich dabei ansieht. Glaube ihm kein Wort. Mache ich nicht. Als würde es ihn wirklich kümmern, wie es mir ergangen ist. Er versucht lediglich mich gefügig zu machen, um mir Stück für Stück meine Geheimnisse zu entlocken. Am meisten muss es ihn fuchsen, wie ich ihm unerkannt so nahe kommen konnte.

»Meinetwegen«, entgegne ich distanziert und beobachte die vielen verschiedenen Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind. Der Großteil wirkt gehetzt, aber keinesfalls verängstigt, während vereinzelte selig lächelnd vor sin hin dümpeln. Immer wieder schenken sie uns neugierige Blicke, was ich auf meinen Aufzug zurückführe. Ich muss in ihren Augen aussehen, als hätte ich einen Abfallcontainer mit der Dusche verwechselt. Vermutlich rieche ich auch so. Resigniert vergrabe ich die Hände in meinen Taschen.
Wie es wohl sein muss von klein auf hier zu leben? Mit liebenden Eltern und treuen Geschwistern. Wie ist es ein richtiges Leben zu führen?

Meine Laune erreicht ebenfalls den Gefrierpunkt, als Farang und mir zwei händchenhaltende Teenager über den Weg laufen. Sie mustern mich mit unverhohlener Neugier und wirken so glücklich und sorglos, wie ich es gerne wäre. Bestimmt reden sie hinter meinem Rücken über mich, sobald sie uns vollständig passiert haben. So etwas wie: Sieh dir das dreckige Mädchen an. Glaubst du sie hat irgendwelche ansteckenden Krankheiten?
Glauben? Mit Sicherheit hat sie die.
Am liebsten würde ich beiden ihr dämliches Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Nein. Ich würde sie in Distrikt 2 verbannen, damit sie am eigenen Leib erfahren, wie sich Hoffnungslosigkeit anfühlt.

»Geht es dir nicht gut?«, dringt Farang zu mir durch, sodass ich aufhorche. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich stehen geblieben bin, mit Händen zu Fäusten geballt. Die Teenager sind schon längst um die nächste Ecke verschwunden. Jetzt reiß dich verdammt nochmal zusammen! Konzentrier dich.
»Alles gut. Ich stehe nur … etwas neben mir.« Raphael nickt verständnisvoll.
»Ich verstehe. Das alles muss ziemlich aufwühlend sein. Man trifft seinen Vater schließlich nicht jeden Tag. Nur noch eine Straße und wir sind da, dann kannst du dich ausruhen.« Ausruhen. Wann habe ich mich das letzte Mal ausgeruht?

We are never SafeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt