Er starrt mich lange Zeit einfach nur an. Es ist, als wäre sein Hirn vorübergehend auf Standby geschaltet worden, sodass es ihm nicht länger möglich ist eine Verbindung zum Mund herzustellen. Womöglich fehlen ihm auch einfach nur die Worte. Mich würde es nicht wundern, wenn ihm als nächstes der Mund aufklappen würde. Dieser Gedanke belustigt mich mehr, als er es eigentlich sollte. Immerhin hat Ryan gerade einen Blick hinter meine Maske werfen können.
»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dich einmal sprachlos zu sehen. Was ist los, Reeves? Bist du schockiert, verängstigt oder alles beides zugleich? Na was? Hast du endlich begriffen, warum meine Schwester mich hasst? Dabei dachte ich immer, du bist so schlau«, höhne ich und klatsche in die Hände.»Lyra, ich …« Er wirkt völlig hilflos und scheint mit der Situation überfordert. Selbst von weitem erkenne ich, wie schnell sich seine Brust hebt und senkt, wie seine Augen hastig die Umgebung Abtasten, als würde sie ihm die Wahrheit offenbaren, die doch so offen und unverhüllt vor ihm liegt. Jedes Mal gelingt es ihm nicht, seinen Blick für längere Zeit von mir zu lassen. Nichts ist von seiner selbstsicheren und arroganten Art geblieben. So sieht also der echte Ryan aus, schießt es mir durch den Kopf. Ich bin also nicht die einzige, die sich versteckt hat. Passend. Das macht das kommende einfacher.
»Lyra, ich …«, äffe ich ihn nach und klopfe mir beherzt auf den Schenkel. »Wenn du hier bist um Lorcan zu erledigen, dann bist du zu spät. Ich konnte mich einfach nicht länger zurückhalten, weißt du? Ich habe schon viel zu lange niemanden mehr richtig getötet. Das zerrt echt an den Nerven. Aber jetzt …« Ich atme tief ein und wieder aus. Den offensichtlichen Kupfergestank von frischen Blut ignoriere ich dabei geflissentlich. »Haa. Jetzt geht es mir schon viel besser.«
»Nein.«
»Nein? Nein, was? Hast wohl endlich deine Sprache wiedergefunden? Glückwunsch.«
»Hör auf damit. Das bist nicht du.« Ich wische mir mit dem Ärmel Blut aus dem Gesicht und breite dann einladend die Arme aus.
»Ach nein? Und wie kommst du bitte darauf?«
Er zögert keine Sekunde. »Weil ich in der ganzen Zeit, in der ich dich anschaue, ein verängstigtes kleines Mädchen sehe, das kurz davor steht in Tränen auszubrechen. Auch wenn dein Mund lügt, deine Augen schreien verzweifelt nach Hilfe. Du kannst mich nicht täuschen.«Ich zucke unwillkürlich zurück und Ryans Miene wird weich. Diesen Ausdruck, ich kann ihn nicht ertragen. Nicht von ihm. Ich will sein Mitleid nicht.
»Falsch«, gebe ich mit einem schmallipigen Lächeln zurück. »Ich brauche keine Hilfe von dir. Dieses Leben habe ich mir ausgesucht. Außer meine Schwester interessiert mich nichts! Sogar Valerian habe ich erschossen, um Lorcan meine Loyalität vorzuheucheln, damit ich ihn leichter umbringen konnte! Selbst du bist für mich nichts weiteres als ein Werkzeug, das mir hilft mein Ziel zu erreichen. Das du das einfach nicht begreifen kannst. Jämmerlich! Du kannst übrigens verschwinden. Ich brauche dich nicht mehr.«Genau, hau ab. Wenn du länger bei mir bleibst, wirst du sterben, so wie alle, die mir etwas bedeuten. Ich kann dich nicht beschützen. Ich bin zu nichts zu gebrauchen.
Doch er verschwindet nicht. Sein Blick wird unvermittelt hart und er macht sogar einen Schritt auf mich zu, dann noch einen.
»Du willst, dass ich gehe?«, stößt er gefährlich leise hervor.
»Ja.« Nein.
»Warum?«
»Unser Auftrag ist beendet. Lorcan lebt nicht mehr. Die Schatten sind Geschichte. Es gibt keinen Grund dafür länger zusammenzubleiben.« Falsch. Ich will das nicht!
»Was soll das auf einmal?« Er ist sichtlich aufgebracht. »Ich dachte wir wären ein Team! Warum sagst du das?« Ich wende mich kopfschüttelnd von ihm ab und verschränke die Arme.»Ein Team, wir beide? Du bist wirklich naiv. Seitdem ich dich kenne, habe ich dich ausgenutzt, betrogen und belogen. Es gibt kein uns, kein wir. Ich brauche dich nicht. Du bist mir nur ein Klotz am Bein.« Hör auf! Hör auf so etwas schreckliches zu sagen!
»Dann töte mich« Ich fahre zu ihm herum, weil ich nicht glauben kann, was er da gerade gesagt hat. »Wenn ich für dich wirklich nur ein Klotz am Bein bin, dann bring mich um. Du hast schließlich keine Verwendung mehr für mich.« Ich fühle mich verloren. Er hat es geschafft binnen Sekunden das Blatt zu wenden.

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We are never Safe
Fiksi Ilmiah»Du kannst dich verstecken, versuchen zu fliehen oder kämpfen. Egal, für was du dich auch entscheidest: Du bist niemals sicher. Nie.« Nachdem ein hochansteckendes Virus beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht hat, lebt ein letzter Teil, abgeschot...