|Kapitel 27 - Schrecken|

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Ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. Stunde um Stunde wälze ich mich umher, ohne eine geeignete Schlafposition noch Ruhe zu finden. Das Bett ist mir zu weich, meine Schlafsachen zu eng und die Luft zu trocken. Außerdem verfolgen mich die Bilder des kranken Mädchens und Ryans Fragen. Wofür brauchen sie mich? Was ist an mir so besonders? Und wie passt Ms Bright in dieses Bild? Was übersehe ich? So viele Fragen und keine Antworten, von meiner ausradierten Vergangenheit einmal abgesehen.
Erneut drehe ich mich und schreie dann frustriert in mein Kissen. Es ist aussichtslos für mich, zu versuchen, jetzt Schlaf zu finden, also kann ich mir genauso gut die Beine vertreten.

Im Dunkeln angele ich nach Hose und Shirt, um niemanden auf mich aufmerksam zu machen. Der Flur liegt still und verlassen vor mir, ist in völlige Schwärze getaucht. Etwas drückendes und bedrohliches hängt in der Luft und setzt sich wie zäher Schleim in meine Lunge fest. Meine Atemzüge gehen flach, als ich mich vorsichtig auf den Gang hinaus schiebe. Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich alarmiert auf, als mir der schwache Lichtschimmer auffällt. Er geht von der Tür am Ende des Korridors aus, die die Etagen miteinander verbindet. Über ihr leuchtet Unheil verkündend das grüne Schild des Notausgangs. Leises Gemurmel dringt an mein Ohr. Ich bin zu weit weg, um den Inhalt zu verstehen. Eine Falle?, überlege ich und taste mich weiter voran, als es mir gelingt eine vertraute Stimme herauszufiltern.

»... dir ganz sicher?«, schnappe ich gerade noch den Rest des Satzes auf und kauere mich neben den offen stehenden Türspalt. Mit einem raschen Blick nach rechts versichere ich mich, dass der Aufzug still steht. Er ist auf Etage fünf. Alles sicher. »Es ist mehr als riskant. Du könntest alles zerstören, wenn du jetzt zu schnell handelst.« Ich kann zwei Personen ausmachen. Die eine weiblich, die andere männlich. Sie haben mir den Rücken zugedreht und scheinen in ihre Unterhaltung vertieft. Meine vorherige Vermutung nur eine der Personen zu kennen muss ich korrigieren.

»Was ist denn nicht riskant? Es fehlt nicht mehr viel. Wir müssen nur noch die letzten Vorbereitungen treffen«, antwortet Raphael Farang energisch.
»Ich mache mir trotzdem Sorgen.« Ms Bright vergräbt die Hände in den Taschen ihres weißen Kittels und seufzt schwer. Das blonde Haar trägt sie anders als sonst offen. Es fällt in sanften Wellen über ihren Rücken, lässt sie engelsgleich und unschuldig wirken.

»Ich kann einfach nicht abschätzen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist. Wenn wir überstürzt reagieren und die Behandlung jetzt ansetzen, könnten wichtige Arsenale im Gehirn unwiderruflich beschädigt werden. So bekommen wir die Antworten vielleicht nie.«

»Was würdest du vorschlagen?« Farangs Stimme ist jetzt weicher, liebevoller. Als ich einen raschen Blick riskiere, sehe ich, wie er beide Hände auf Ms Brights Schultern gelegt hat. Eine zu vertraute Geste für Kollegen.

»Es wäre besser, wenn ich noch zwei Tage hätte, um eine endgültige Diagnose zu stellen. Wir müssen unbedingt sicher gehen, dass der Prozess bereits eingesetzt hat, sonst würde das Gehirn bei der übermäßigen Datenflut kollabieren. Sie hat, wie zu erwarten war, erstklassige Arbeit geleistet«, erklärt Ms Bright ruhig und lehnt sich zu meinem Entsetzen weiter gegen Raphael. Seine Hände wandern zu ihrer Taille.
»Zwei weitere vergeudete Tage und das alles nur wegen Lucinda. Selbst nach ihrem vorzeitigen Ableben macht sie noch Ärger!«

Pure Angst packt mich, als der Name meiner Mutter fällt. Die Klauen krallen sich tief in meinen Verstand, legen sich wie ein eiskaltes Band um meinen Magen und ziehen es zu. So viel unterdrückte Wut schwingt in Farangs Stimme mit, dass ich das erste Mal das Gefühl habe, einen Hauch seines wahren Gesichts zu sehen und nicht die blankpolierte Maske. Doch das Gefühl verschwindet genauso schnell wie es kam.

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