|Kapitel 46 - Sünden|

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Ich bin eine verdammte Lügnerin, was meine wahren Gefühle betrifft. Ich belüge die Menschen um mich herum, aber auch – und das ist um einiges schlimmer – mich selbst. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt dazu imstande bin, einmal ehrlich zu sein. Zu mir zu stehen. Zu dem zu stehen, was ich bin und was mich ausmacht. Aber letztendlich läuft es immer darauf hinaus, dass ich doch keine Antwort finde. Ich kann mich eben nicht dazu überwinden ehrlich zu sein – nur eine meiner vielen Schwächen.

Eine weitere ist, dass ich dazu neige, überstürzt zu handeln, weil ich es einfach nicht vermag mein Temperament zu zügeln. Dabei ist ein kühler Kopf am allerwichtigsten, wie ich nur allzu gut weiß. Es hilf keine dummen Fehler zu begehen, die man im Nachhinein bereut. Aber wie soll ich sagen? Ich denke, über diesen Punkt bin ich schon längst hinaus. Meine Fehler sind zu zahlreich, um sie alle bereuen zu können. Das Einzige das ich tun kann, ist meinem Pfad bis zum bitteren Ende zu folgen. Denn für eine Umkehr ist es längst zu spät.

Das wird mir in dem Moment bewusst, als ich Seite an Seite mit Ryan durch die Tür und somit in einen dunklen Schlund presche. Es dauert wichtige Sekunden, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt haben – Sekunden, die unseren Angreifern einen gewaltigen Vorteil verschaffen.
Die schattenhaften Gestalten überfallen uns aus dem Nichts, sodass ich noch nicht einmal reagieren kann, als mir die Waffe aus der Hand geschlagen wird. Sie verschwindet in der Dunkelheit. Ich höre Farrah wütend schreien und Svan hinter mir fluchen, bevor ein Lichtblitzt gefolgt von einem lauten Knall die Luft zerschneidet.

Ich kann nicht sagen, wer geschossen hat. Doch ich kann hören, dass das Projektil trifft und dass jemand stöhnt. Es ist Ryan.
Einen Moment bin ich so benommen, dass ich demjenigen der mich mit seiner Hand fest an den Haaren packt, nichts entgegenzusetzen habe. Viel zu sehr beschäftigt mich der Gedanke, Ryan könnte seinen letzten Atemzug getan haben.  Das nächste, das ich mitbekomme ist, dass die Schwerkraft sich plötzlich dazu entscheidet, nicht mehr für mich zu gelten. Quer fliege ich durch den Raum und schlage gegen ein Tischbein, dass unter der Wucht des Aufpralls splittert. Ich keuche auf, als gleißender Schmerz durch meine rechte Seite schießt und bis zu meinen Schläfen zuckt. Wäre meine Wunde nicht gelasert worden, säße ich jetzt ganz schön in der Scheiße.

Aber anstatt aufgeplatzen Nähten und einen Schwall frischen Blutes, ergießt sich jetzt nur ein kräftiger Adrenalinstoß durch meinen Körper. Mein Verstand klärt sich, meine Sinne schärfen sich und noch während ich wieder auf die Füße gelange, weiß ich, dass ich nun zum Gegenschlag aussetzen kann.
Die Spielchen sind vorbei.

Mein Gegner lässt nicht lange auf sich warten. Er umklammert mich von hinten und macht damit genau den Fehler, auf den ich gehofft habe. Mir entweicht ein Lächeln als ich mich leicht fallen lasse und gleichzeitig die Hüfte nach hinten stoße, sodass er mich nicht mehr richtig packen kann. Sein Schicksal ist besiegelt. Meine Hand trifft zielsicher seine Weichteile. Alles was der Mann jetzt noch tun kann, ist jaulend auf den Boden zu sacken, bis ich ihm mit einem weiteren Schlag den Kehlkopf zertrümmere.
Ich nehme eine aufrechte Position ein und atme mit geschlossenen Augen langsam ein und aus. Erinnere mich an die Lektionen von Kenshin und erweitere meine Sinne.

»Was tust du, wenn du niemanden sehen kannst, dich aber alle sehen, Lyra?«
»Was soll die Frage, Kenshin? Ich wüsste nicht, wann das passieren sollte.«
»Der Zeitpunkt ist irrelevant. Ich möchte wissen, ob du dazugelernt hast. Und nun beantworte die Frage. Was tust du dann?« Er sieht mich wieder mit diesem unnachgiebigen Blick an, der mit zu verstehen geben soll, dass er mich nicht in Frieden lässt, bis er eine vernünftige Antwort von mir bekommt. Tsk.
»Mir einen Vorteil verschaffen. Man muss nicht sehen können, um zu gewinnen, richtig? Es reicht zu wissen, wo die Gegner und ihre Schwachstellen sind.« Es denkt eine Sekunde darüber nach und nickt dann zufrieden.
»Gut. Wirklich, sehr gut.«

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