|Kapitel 10 - Stolz|

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»Du bist zu hart zu ihr«, erklärt Kenshin ohne Umschweife, sobald wir auf der unnatürlich belebten Straße stehen und uns durch das morgendliche Gedränge der Menschen schieben. Sie alle brechen auf, um ihren Tag in einem anderen Distrikt zu verbringen, Nahrung zu suchen oder Wertgegenstände an sich zu bringen. Mittlerweile hat sich sicherlich eine lange Schlange vor dem Kontrollpunkt gebildet, sodass man stundenlang anstehen muss.

»Glaubst du, das weiß ich nicht? Glaubst du, ich würde mich nicht selbst dafür hassen?«, murmele ich niedergeschlagen und weiche einem kleinen Jungen aus. Er ist von oben bis unten verdreckt. Sein rundliches Gesicht blickt mir ernst entgegen, obwohl er doch in seinem Alter lachen sollte. Er sollte mit Spielzeugautos spielen und die Nerven seiner Eltern strapazieren, indem er die Wände mit Wachsmalstiften verschönert. Doch natürlich ist dem nicht so. Mir kommt der Gedanke, dass seine Eltern bereits tot sein könnten und ich wende mich bedrückt ab.

Das nächste, was meinen Geist durchflutet ist Skara, die ich vielleicht nie wieder sehen werde. Wer weiß schon, was mich im Stadtkern erwartet? Trotzdem muss ich es tun. Ich habe die einmalige Chance mir weitere Informationen zu beschaffen und diese werde ich bestimmt nicht vertun. Ich muss nur endlich mit dieser verdammten Sentimentalität aufhören! Was ist den heute mit mir los? Hat mir Lorcan etwa eine Gehirnwäsche verpasst?

Kenshin und ich kämpfen uns weiter durch die Menschenmassen und schaffen es schließlich in eine Seitengasse, die deutlich unbelebter ist. Leider nicht unbelebt genug stelle ich in dem Moment fest, als mir der grobschlächtige Mann ins Blickfeld sticht, der gerade seine Hose schließt. Die spindeldürre Frau, die eben noch vor ihm gekniet haben muss, lässt just in dem Moment ein kleines Tütchen zwischen ihren schlaffen Brüsten verschwinden, als ich einen leisen Fluch ausstoße. Ein kurzer Blick zu Kenshins versteinerte Miene reicht aus, um meine Vermutung zu bestätigen. Das gibt Ärger. Ärger, den wir momentan überhaupt nicht gebrauchen können.

Es bedarf keiner sonderlich großen Kombinationsgabe, um zu erraten, dass es sich bei der Frau um eine drogenabhängige Prostituierte handelt, die lediglich für den nächsten Rausch weiterelebt. Ein weiteres Nebenprodukt unserer abgefuckten Gesellschaft.
Doch die Frau, die sofort Reißaus nimmt, sobald sie uns bemerkt, ist nicht der Grund für meine Reaktion. Es ist der glatzköpfige Mann, auf dessen Nacken eine sichtbare Gang-Tätowierung prangt, bei dem sich mir alle Härchen aufstellen.

»Artanis Zeichen«, hauche ich und straffe die Schultern beim Namen des unbarmherzigen Drogenbosses, der der schlimmste Mensch in ganz Defacity ist. Noch niemand hat ihn zu Gesicht bekommen. Er ist wie ein Phantom, der im Geheimen die Strippen zieht. Man munkelt sogar hier und da, er hätte ein geheimes Abkommen mit der Regierung.

Es ist zu spät Artanis Schergen unbemerkt zu entkommen, also müssen wir abwarten. Abwarten auf das, was kommt. Denn zu unserem größten Pech ist der Kerl nicht nur ein dämlicher Vollidiot. Es ist Joe, Artanis bescheuerter Stiefbruder – so jedenfalls das Gerücht.
»Wen haben wir denn da? Wenn das nicht zwei von Lorcans unfähigen Schoßhündchen sind. Hat euch räudigen Kötern wohl Auslauf gegeben, was?«, spottet der Glatzkopf, sobald seine schwarzen Augen uns fokussieren. Es sieht aus, als handele es sich dabei um zwei Kohlestücke. Sie würden perfekt zu seiner verpesteten Seele passen.

»Sag mal, wie fühlt es sich gleich wieder an, nur einmal im Monat Frischluft zu schnappen? Hab gehört, wenn man Artanis bis Anschlag in den Arsch kriecht kann es sehr stickig werden zu dieser Jahreszeit«, höhne ich im Gegenzug, bevor ich meine vorschnelle Zunge zurückhalten kann. Während sich der Ansatz eines Schmunzelns auf Kenshins Gesicht abzeichnet, brennt dem Glatzkopf glatt eine Sicherung durch.
»Schnauze, dämliche Schlampe! Sonst wird es dir noch leid tun!«, droht er mir und macht ein paar Schritte auf uns zu. Er ist riesig und überragt mich über einen Kopf. Trotzdem schüchtert mich der Kerl nicht ein. Er ist untrainiert und wuchtig. Ich bin klein und flink. Bevor er einen weiteren Schritt macht, hätte ich ihn schon mein Schwert ins Herz gerammt.

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