|Kapitel 43 - Verlassen|

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Ich warte den Aufprall von Pearsons leblosen Körper nicht ab. Er könnte nicht unbedeutender für mich sein. Ich kauere mich neben Medelaine und presse meine Hände auf die frische Schusswunde, aus der gnadenlos Blut fließt. Sie wird es nicht schaffen, das wissen wir beide. Doch auch wenn es mein Kopf schon längst verstanden hat, heißt das nicht, dass mein Herz es auch akzeptiert. Nur noch Minuten trennen sie vom Tod. Ich sehe es in ihren hoffnungslosen Blick, der mir das Herz schwer werden lässt.
»Lyra«, flüstert sie mit brüchiger Stimme und ich sehe in ihr aschfahles Gesicht. Es kommt mir jetzt so vertraut vor. Sie hat sich in den letzten Jahren kaum verändert.
»Nein. Sag jetzt nichts. Ich bekomme das wieder hin. Bitte, halte durch. Ryan wird ...«

»Wird er nicht«, unterbricht sie mich voller Bedauern und legt mir ihre Hand auf den Unterarm. Sie schluckt und Tränen brennen in ihren braunen Augen. »Und es ist okay. Nichts wird mir jetzt mehr helfen können. Bringt euch bitte in Sicherheit.« Ich schüttele den Kopf, was sie zum Lächeln bringt. »Du bist wirklich das Ebenbild deiner Mutter, Lyra. So wunderschön und stark. Mit einer Entschlossenheit gesegnet, für die andere töten würden.«

Sie verlagert stöhnend ihr Gewicht, um sich in die Tasche zu fassen. Sie hält mir ein zerfleddertes Notizbuch hin. Ich kann es nicht nehmen. Dazu müsste ich meine Hände von ihr lassen.
»Das ist für dich. Es gehörte deiner Mutter. Ich passe schon viel zu lange darauf auf. Sie wollte, dass du es bekommst, wenn du stark genug geworden bist. Der Tag scheint jetzt gekommen. Du musst sie finden und zu ihr gehen. Du bist jetzt unsere letzte Hoffnung.« Sie sieht an mir vorbei, zu Ryan. Ich habe nicht bemerkt, dass er neben mich getreten ist. »Pass bitte auf meine Nichte auf. Sie hat sich aus freien Stücken entschieden dir zu helfen. Du verdankst ihr dein Leben.« Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert, da ich nur auf meine sterbende Tante sehe. Ihr klebriges Blut rinnt mir unaufhörlich durch die Finger. Nun werde ich auch sie verlieren. Ein weiterer Tod auf einer nicht enden wollenden Liste.
»Natürlich, Ms Bright.«
»Danke.«

»Ich werde dich vermissen«, hauche ich, als sich ihre Hand tröstend an meine Wange schmiegt. Und da fällt es mir plötzlich ein. Ein letztes Geschenk, das ich ihr auf die Reise ins Ungewisse mitgeben kann. Es ist eine Schande, dass ich nicht früher daran gedacht habe. »Skara ebenso. Sie hätte dich von ganzem Herzen geliebt.«
»Sie lebt? Skara ist nicht tot? Aber wie ...« Sie strahlt, während Tränen ungehindert über ihr Gesicht fließen. Ich wische sie mit dem Handrücken beiseite.

»Sie ist unregistriert und wartet auf mich. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht eher gesagt habe. Hätte ich mich nur schon früher erinnert, dann wäre das nie passiert.«
»Nein, mach dir keine Vorwürfe. Nichts davon ist deine Schuld. Ich bin so glücklich. Ich danke d-« Sie verstummt mitten im Satz. Ihre Hand fällt herab. Mit glasigen Augen und einem Lächeln auf den Lippen starrt sie einsam gen Himmel.

»Scheiße!«, fluche ich und weiß nicht mit meinen Gefühlen wohin. Am liebsten würde ich die Welt in Stücke reißen und anschließend niederbrennen. Stattdessen begnüge ich mich damit Ryans Hand auf meiner Schulter zu spüren und meiner verstorbenen Tante die Augen zu schließen. Sie sieht friedlich aus.
»Wir müssen gehen«, erinnert mich der blonde Mann sanft aber mit Nachdruck. Er hat Pearson Schuhe und Jacke abgenommen, die er sich jetzt hastig anzieht. Ich nehme das Notizbuch meiner Mutter an mich und richte mich schwankend auf. Die Hitze hat in den letzten Minuten deutlich zugenommen und ich bin mit Schweiß überströmt. Ich muss die Augen zukneifen, damit er nicht hineinrinnt.
»Ich weiß.«

Gemeinsam laufen wir zu der seltsamen Apperatur, die Kenshin aufgebaut hat. Ein gespanntes Stahlseil verbindet dieses Gebäude mit dem Nebengebäude. Es ist offensichtlich, wie wir hier wegkommen.
Ryan schlingt den Sicherungsgurt um seine Taille, als eine Feuerwand die Dachtür wegreißt und mich stolpern lässt. Flammen schlagen uns wild züngelnd entgegen und bereiten sich binnen Sekunden einen Weg zu uns. Mir bleibt keine Zeit mehr meinen Gurt anzulegen. Das Adrenalin rauscht durch meine Adern und verdrängt die aufkeimende Schwäche durch mein stärker werdendes Fieber.
»Halte dich gut an mir fest!«, brüllt er mir über das Knistern der Flammen hinweg zu. Ich bringe ein Nicken zustande und umklammere ihn gerade noch mit beiden Armen, da gibt der Boden unter uns nach.

We are never SafeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt