Kapitel 16

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Langsam löse ich mich von ihm und greife nach der Tasse, in der der Tee mittlerweile gut abgekühlt ist. "Hier, sollte jetzt gehen, ohne sich daran zu verbrennen", sage ich leise und lächle ganz vorsichtig. War er denn jetzt überhaupt schon zum Grinsen bereit? Saß der Schmerz nicht noch zu tief dafür?

Langsam bewege ich das warme Porzellan zu ihm, er greift dankend danach und tatsächlich. Ich kann erkennen, wie er, wenn auch nur ganz minimal seine Mundwinkel anhebt. In mir breitet sich eine hoffnungsvolle Wärme aus. War ich diejenige, die ihm dieses kleine Lächeln abverlangen konnte? Meint er das denn ernst, oder hat er es nur aus Höflichkeit erwidert?

Ein kalter Schauer jagt über meinen Rücken und gleicht somit meine Temperatur wieder aus. Ich beobachte ihn, wie er immer wieder kleine Schlücke von seinem Tee nimmt, mir noch viel zu unruhig. Nach einer Weile stellt er die geleerte Tasse auf den Tisch und lehnt sich zurück in das Polster. Er starrt eine Weile lang nur an die Wand, bevor er anfängt zu reden.

"Gestern Abend, nachdem wir alle Schlafen gegangen sind, bin ich in der Nacht hochgeschreckt", murmelt er leise. "Ich konnte so schon kaum schlafen, ich habe mir viel zu viele Vorwürfe gemacht. Und irgendwann..", er macht eine kurze Pause und greift nach meiner Hand. Als er mich fragend ansieht, nicke ich ihm zu und er drückt sie fest.

"Irgendwann hat mein Handy geklingelt. Ich glaube es war drei Uhr morgens."

Immer wieder überlegt er nach der Uhrzeit, ich weiß, dass er sich damit ablenken möchte. Als er sich jedoch fast reinsteigert, drücke ich seine Hand ein wenig fester, worauf er sofort verstummt und durchatmet.

"Es war meine Frau", schluckt er. "Wahrscheinlich hatte sie mich unabsichtlich angerufen, zumindest war nur lautes Stöhnen zu hören. Fuck, ich fasse es einfach nicht!" Wütend schlägt er sich mit der anderen Hand auf sein Bein und fährt sich danach durch sie wild herumstehenden Haare.

"Warum tut ein Mensch sowas? Und warum habe ich davon nichts geahnt?"

Seine Sätze treffen mich tief. Ich weiß von dem Vorfall mit meinem "Ex-Freund" rein gar nichts mehr, alle Erinnerungen sind ausgelöscht. Und trotzdem habe ich das Gefühl, die gleiche Wut spüren zu können.

"Ich weiß es nicht, Patrick", gebe ich unwissend zu. "Ich habe absolut keine Ahnung mehr, wie ich darauf reagiert habe, als ich meinen Freund so erwischt haben soll. Aber ich denke so ganz anders habe ich auch nicht gedacht. Es muss ja einen Grund gegeben haben, weshalb er mir das zugefügt hat." Vorsichtig fahre ich mit der Hand über meine fast vollständig geheilte Wunde und auch er wirft einen Blick darauf.

"Wer Frauen schlägt ist kein Mensch", meint er aufgebracht. "Es reicht schon, Menschen mit Worten zu verletzen, aber körperlich..", sanft streicht er mir über die Hand. "Das ist einfach nur feige und unmenschlisch."

Beschützend legt er einen Arm um meine Schulter und zieht mich ein Stück näher zu sich heran. Ich bin von seiner Stärke wirklich begeistert. Erst jetzt ist ihm selbst so etwas widerfahren und trotzdem kann er so für seine Mitmenschen da sein.

"Was hast du jetzt vor?", frage ich leise und kuschele mich ein wenig in seinen Arm. Unwissend zuckt er mit den Schultern. "Das erste wäre wohl, die Scheidung einzureichen", seufzt er. "Das mag ein harter Schritt sein, aber ich kann niemandem mehr Glauben schenken, der mein Vertrauen so missbraucht hat."

"Verstehe ich, würde mir wohl nicht anders gehen."

"Und mit dem Haus und dem Geld müssen wir uns wohl irgendwie einig werden. Ich hoffe, sie macht da mit."
Bei seinen Worten streichelt er mir nonstop über die Schulter. Es tut gut jemanden zu haben, bei dem man sich wohlfühlt und dem es in seiner eigenen Gegenwart womöglich auch so geht. Hoffe ich zumindest.

Ein Leben ohne Vergangenheit [Michael Patrick Kelly]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt