5.Kapitel Das Rätselspiel - Spiel des Lebens

7 2 0
                                    


„Er (Gollum) bemühte sich, sehr freundlich zu erscheinen, jedenfalls im Augenblick und bis er mehr über das Schwert und den Hobbit herausbekommen hatte, ob er wirklich ganz allein war, ob er gut schmeckte und ob er selbst wirklichen Hunger hatte."

Das erste Aufeinandertreffen von Bilbo mit dem Untergrundlebewesen Gollum ist gekennzeichnet von dem wechselseitigen Wunsch den anderen einschätzen zu können, herauszufinden, um was es sich beim Gegenüber handelt - ob und welche Gefahr von ihm ausgeht („wer seid Ihr? fragte er und streckte den Dolch vor. Was issst das bloß, mein Schatzzz? wisperte Gollum"). Wie eine Art Übersprungshandlung klingt an dieser Stelle Gollums Vorschlag, ein Rätselduell abzuhalten („vielleicht setzt es sich dazu und schwatzt ein bisschen, mein Schatz! Vielleicht mag das da Rätsel?") Statt nun direkt in eine kämpferische Auseinandersetzung über zu gehen, erfolgt nun eine Phase dessen, was man als ritualisiertes Kämpfen bezeichnen könnte, - ein Duell der anderen Art, welches die Möglichkeit eröffnet auf rein geistiger Ebene seine Kräfte zu messen, - um dadurch den anderen und seine Sichtweise einschätzen und kennen lernen zu können. Beide „Kampfesparteien" testen sich mit ihren immer schwerer werdenden Rätseln gegenseitig aus. Vor des Lesers Augen eröffnet sich ein Rätselduell, welches verdeutlicht, dass es nicht immer nur rohe Kräfte und direkte Aggressionen zur Lebensbewältigung braucht, sondern dass insbesondere beim Lösen von größeren Konflikten auch völlig andere Talente im Leben gefragt sind.

Das gemeinsame Rätselraten stellt ein sich gegenseitiges Beschnuppern dar, ein Feststellen von Gleichheit in den errätselten Denkkategorien, eine Art indirekter Kommunikation und Möglichkeit des sozialen Austausches. Vor allem, da für den lange von der Außenwelt isoliert lebenden Gollum Rätselraten noch das einzige verbliebene Verbindungsstück zu der Welt der Normalität darstellt („Rätsel waren das einzige, über das er nachzudenken verstand. Rätsel zu stellen und sie zuweilen auch zu lösen war das einzige Spiel, das er jemals mit anderen seltsamen Höhlenbewohnern gespielt hatte - vor langer, langer Zeit."). In Gollum lebt also nicht nur das Neugiermotiv, wie wir es in einem der letzten Abschnitte dargestellt haben, sondern in dem Rätselspiel zeigt sich bei Gollum durchaus auch die Rätseln innewohnende Tendenz, die Welt um sich herum erschließen zu wollen. Auch in diesem Untergrundwesen findet sich also das universelle Grundbedürfnis, die Welt und alles darin Enthaltene begreifen und greifen zu wollen. Auch Gollum versucht durch sein Denken kreative Lösungen zu finden, die Welt zu sortieren, Kategorien zu bilden, Wissen flexibel zu nutzen und zu erweitern. Damit überschreitet er andeutungsweise und phasenweise die Trennlinie zwischen reinem Tierverhalten und dem Streben einer auf Selbstwerdung orientierten Wesensgattung. Überall anders hätten wir die Existenz von Lebewesen mit Lust auf Rätselraten erwartet, aber sicher nicht hier in dieser dunklen, schleimigen Höhle und auch nicht bei einem solchen Raubtier, dass mehr Tier und Ungeheuer ist, als dass es einem zur Selbstwerdung strebendem Wesen gleicht.

So könnte diese Szene eines Rätselduells in den Untiefen einer feuchten Höhle auf den Leser durchaus skurril wirken. Verstört könnte man sich fragen, wie passt hier denn alles zusammen? Wie passt dieser ganze Vorgang logisch mit dem zusammen, was wir bis jetzt über Bilbo und Gollum wissen? Doch erstaunlicherweise ruft diese Kombination der Handlungsstränge beim Leser kein Erstaunen hervor; kaum bemerkt er den Übergang zu einer ganz anderen Ebene des Textes - denn ganz intensiv, so behaupte ich, ist diese Ebene, die im Text versteckt mitläuft, mit unserem Menschsein an sich zutiefst verbunden und verwoben. Stellt doch das Rätselraten eine im Unbewussten gespeicherte innerpsychische Gegebenheit dar, die alle Menschen dieser Welt miteinander teilen. Immer schon waren Menschen fasziniert von Rätseln, von ungelösten Fragestellungen, von unentdeckten Wissensschätzen und von der Möglichkeit über solche Fragestellungen Brücken zu schlagen. Brücken über die Distanz der Fremdheit hin zu der Möglichkeit Gemeinsames zu entdecken -gemeinsames Weltwissen zu erarbeiten und Licht ins Dunkel der Menschheit zu bringen. Brücken zu schlagen zu unserem gemeinsamen kollektiven Unterbewusstsein, dem Wissen was uns als Menschheit vereint. So zeigt sich bei Gollum und Bilbo, die ja aus ach gar so verschiedenen Lebenswelten stammen, dass sie unterschiedlicher nicht sein könnten, über das Rätsel die Möglichkeit der Kommunikation und Identifikation universeller Denkmuster. Es braucht keine extra Verständigung über die Lösungsantwort, sind diese Entitäten doch tief in der Seele der Ratenden verankert. Gollum und der Hobbit finden kurzzeitig über ihre wechselseitige Befragung eine Sprache des gegenseitigen Verständnisses, indem über Begriffe gegrübelt wird, die überindividuell verständlich sind. Unsere "Ratefreunde" teilen unbewusst, gemeinsam kollektives Wissen über bestimmte Dinge - z.B. über Naturerscheinungen (Berge, Wind, Zähne) als auch über Abläufe und Zusammenhänge in dieser unserer Welt (das Dunkel, die Zeit etc.). Durch das Rätselspiel gelingt es phasenweise die Fremdheit zu überbrücken und das Gemeinsame, Bindende zwischen den Ratenden zu betonen.

Welche Funktion hat hier also das Rätselratespiel zwischen dem Hobbit und Gollum? Weshalb führt Tolkien hier in seinem Buch über die Selbstwerdungsreise seines Hobbits diesen Handlungsabschnitt mit ein? Was fasziniert Menschen schon seit Jahrtausenden an Rätseln? In größerem Bezugsrahmen scheint es so zu sein, dass Rätselraten weitergefasst angesehen werden kann, als die übergeordnete Suche nach dem Sinn des Lebens, nach der Antwort die alle Rätselantworten umschließt. Vorrangig gilt es also auf unserer Selbstwerdungsreise das eigene einzigartige „Lebensrätsel" zu lösen, also die Antwort zu finden auf die Frage, vor die uns die Welt stellt. Die Fragen, die genau an uns Einzelindividuen, als auch an alle Völker dieser Welt gestellt wird. Wir sind dazu aufgerufen Licht ins Dunkel unseres „Lebenssinns" zu bringen. Antworten beizubringen, die uns das Leben beständig stellt. Jeder von uns, selbst das schleimigste Untergrund-Höhlenmonster ist dazu geschaffen worden, selbst herauszufinden, „was die Welt im Innersten zusammenhält".  Im Fragen und Teilantworten finden, können wir über das Gefühl etwas Neues, Kreatives geschaffen zu haben, ein Teilrätsel des Lebens enträtselt zu haben, immer wieder „Erleuchtung" erfahren - bereits in diesem Leben - immer wieder. Fragen und Antwortsuche sind ständige Begleiter unseres Lebens. Das Leben erklärt sich niemals von sich aus, sondern muss von uns erschlossen werden. Stück für Stück. Der fragende Mensch bewegt sich im Erkenntnisprozess des Lebens mal mehr, mal weniger erfolgreich, doch seit Jahrtausenden hört er nicht auf zu fragen, - über gefundene Antworten dazu zu lernen und sich immer weiter zu entwickeln. Des Lebens Rätsel zu erraten, eine Antwort zu finden, ist das Salz in der Suppe des Lebens - das Finden der Lösung bringt uns dem Wissen über den wahren Lebenssinn immer näher. Ach wie abenteuerlos wäre diese Welt doch, wenn es nicht noch unbeantwortete Fragen, nicht betretene Gebiete gäbe. Wie könnten wir uns da noch weiterentwickeln? So ist es gut zu wissen, dass die Welt immer wieder in neuer Gestalt, mit neuen und alten Fragen auf uns zukommt und uns die unerschöpfliche Möglichkeit gibt zu erfolgreichen Gestaltern unserer eigenen Lebenswirklichkeit zu werden.

Sehr oft werden wir uns zusätzlich mit Fragen und Rätseln konfrontiert sehen, die sich auf die Menschen beziehen, die in unser Leben treten. Ist doch unsere soziale Lebensaufgabe, untereinander immer wieder die Bedeutung des Verhaltens des Gegenübers enträtseln zu müssen. Der andere, sein Verhalten, seine Äußerungen müssen beobachtet, entschlüsselt und durch unseren eigenen Erfahrungsrahmen hindurch gedeutet werden. Das Mitgeschöpf ist also immer auch ein Rätselbestandteil der von uns entschlüsselt werden muss. Genau wie es unser pfiffiger Hobbit und das schleimige Ungeheuer Gollum uns hier vorführen. Sie beschnuppern sich, nutzen die Gelegenheit den anderen einschätzen zu können und in bekannte Kategorien einordnen zu können („Sehr gut, sage Bilbo, der sogleich zustimmte, um mehr über dieses Wesen herauszufinden - ob es allein, ob es wütend oder hungrig und ob es ein Freund der Orks war"), um auf das Ergebnis dieses Abgleichungsprozesses ihre weiterführenden Handlungen aufzubauen.Mit der letzten Frage „Was ist in meiner Tasche?" ist der Abgleichungsprozess abgeschlossen. Es wird deutlich, dass der Brückenschlag von Individuum zu Individuum gescheitert ist. Keine weiterführende Verständigung ist an dieser Stelle mehr möglich. Ausgelöst wird dieser Abbruch des konstruktiven Zugangs durch Gollum, in dem der Prozess des Rätselratens eine Seite zum Klingen bringt, die ihn an seine Vergangenheit, an seine Wurzeln als Mitlebewesen erinnert („Aber diese ganz gewöhnlichen oberirdischen Alltagsrätsel langweilten Gollum. Auch erinnerten sie ihn an Tage, da er noch nicht so einsam und schleimig und hässlich war, und das verdarb ihm die Laune"). Die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen dem Leben des Hobbits und seinem eigenen macht Gollum noch wütender und dummerweise auch hungriger. Es bleibt zu vermuten, dass die Rätselinhalte tief in Gollums Seele schmerzhafte Seiten und Verluste, alte Erinnerungen Stück für Stück an die Oberfläche gebracht haben. Gollum kann diesen beginnenden Veränderungsprozess kaum aushalten, er will sich in den Schutz seines Schatzes zurückziehen und damit den alten Status Quo wieder herstellen, in dem er nur ein „Untier" ist, dass den Hobbit fressen und das die über das Zusammentreffen ausgelösten unangenehmen Gefühle schnellst möglich wieder aus der Welt schaffen will. Allein, es gelingt ihm nicht mehr. Die Frage des Lebens an ihn „Wer bist du?" ist unwiderruflich gestellt und wird ihn durch die Trilogie „Der Herr der Ringe" immer weiter unnachgiebig begleiten.

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt