5.Kapitel Alleinsein in schweren Zeiten

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Zurückgehen? dachte er. Keinesfalls! Einen Seitenweg gehen? Unmöglich! Vorwärts gehen? Das einzig Richtige! Auf also, vorwärts!"

Nach einer nicht näher definierten Zeitspanne erwacht Bilbo am Anfang des Kapitels aus einer tiefen Bewusstlosigkeit. Wie wir später erfahren, ist er bei dem hinterrücks durchgeführten Angriff der Orks vom Rücken des ihn tragenden Zwerges gefallen und mit dem Kopf hart gegen einen Stein gestoßen. Nun findet er sich ganz allein in der Dunkelheit des Orkstollen wieder. Niemand ist bei ihm und er weiß nicht, was mit seinen Reisegefährten geschehen ist („Niemand war bei ihm. Stellt euch seine Angst vor. Er konnte nichts hören, nichts sehen, und er konnte nichts fühlen außer den Steinen auf dem Boden"). Bilbo ist also allein und verständlicher Weise vollkommen verängstigt. Am Boden liegend findet er sich wieder. Nach einiger Zeit richtet er sich etwas auf und kriecht kurzzeitig auf allen Vieren weiter und setzt sich dann entmutigt wieder auf den kalten Boden („Er ging auch nicht viel weiter, setzte sich auf den kalten Boden und gab sich völlig seinem grenzenlosen Elend hin"). Wer will ihm in dieser Situation eine solche Mutlosigkeit verübeln? Wem würde es in dieser Situation anders gehen? In einer Situation, die nicht hoffnungsloser und aussichtsloser sein könnte. Umgeben von Dunkelheit und möglichen Feinden, und von vielen anderen todbringenden Gefahren.

In seiner Verzweiflung sucht Bilbo nach einer Möglichkeit sich zu beruhigen. Und dafür bietet sich seine Tabakpfeife an, die ihm in dieser gefährlichen Situation ein heimeliges Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln könnte („Dann suchte er nach Streichhölzern und konnte nicht ein einziges finden, und das zerstörte seine Hoffnungen völlig"). Gerade noch rechtzeitig fällt ihm auf, dass diese Scheinbefriedigung und Scheinberuhigungsmethode ihn eventuell in noch größere Gefahr bringen könnte („ Aber es war eigentlich ganz gut, wie er schließlich feststellte, als er allmählich wieder zu Verstand kam. Weiß der Himmel, was ihm noch in den dunklen Löchern an diesem schrecklichen Ort passiert wäre, wenn er Streichhölzer angezündet und geraucht hätte"). Aber auf der Suche nach den Streichhölzern findet er in seiner Tasche ein kleines Schwert, welches er im dritten Kapitel aus der Höhle der Trolle für sich mitgenommen hatte und das, ebenfalls wie die Schwerter, die nun Gandalf und Thorin haben, eine Elbenklinge ist, die geschaffen wurde, um damit Orks zu bekämpfen („Immerhin fühlte er sich nun ein wenig sicherer. Es war nahezu großartig, eine Klinge zu tragen, die in Gondolin für die viel besungenen Orkkriege geschmiedet worden war"). Diese Klinge und die in sie eingewobene Aussage der Hoffnung auf den Sieg des Guten gegen das Böse, geben Bilbo die Kraft sich aufzuraffen und wieder aufrecht zu gehen („Er erhob sich, trottete weiter und hielt sein kleines Schwert vor sich hin. Mit einer Hand fühlte er die Wände ab, und sein Herz pochte und zitterte").

Trotz all seiner Ängste, seiner tiefen Verzweiflung erhebt sich der kleine Hobbit und trotzt damit den Widrigkeiten seines Abenteuers. Ein Ablauf der Geschehnisse, wie er bewundernswerter nicht sein könnte. Bereits hier kristallisiert sich die Vorbildfunktion des Hobbits für eine erfolgreiche Bewältigung unserer Lebensgeschichte deutlich heraus. Der Hobbit schafft etwas, bei dem wir ihn nur bewundernd beobachten können. Vom Schicksal in die Knie gezwungen, getrennt von Freunden, von jeglicher Sicherheit transformiert er die Hoffnungslosigkeit der Situation in sinnbringende Aktivität und Widerstandskraft. Ein Ablauf, der so bemerkenswert klingt und uns die Frage stellen lässt, können wir selbst in unserem Leben eine solche Größe in uns hervorbringen? Denn auch in unserem Leben wird es manchmal sehr schwere Stunden geben, in denen wir ganz auf uns allein gestellt sind und durch die wir ganz alleine hindurch müssen. Ähnlich gelagert wie beim kleinen Hobbit gibt es auch in unserem Leben Situationen in denen uns niemand anderer helfen kann. Zu solchen Zeitpunkten sind wir der Einzigste, der die eigenen Kräfte sammeln und fokussieren kann, um sich selbst wieder aus dem Labyrinth der destruktiven Lebensmöglichkeiten zu befreien. Gerade in einer solchen Situation befindet sich der kleine Hobbit. Allein und verlassen in einer feindlichen Umgebung, in der es keine Beleuchtung gibt, die den Weg erhellt, keine Schilder, die zeigen, wo es hingeht, und in der sich hinter jedem Eck ein möglicher Feind oder eine Gefahr verbergen kann.

In bestimmten Lebenslagen sind wir, genau wie unser lieber Herr Bilbo, ganz und gar auf uns selbst zurückgeworfen. Zurückgeworfen einzig auf unsere eigenen Talente, unsere Fähigkeiten, auf unser Glück und auf unseren Glauben an uns selbst und an einen positiven Ausgang der Geschehnisse. Dieser Glaube hilft uns, uns wieder vom Boden aufzurappeln, wenn das Schicksal uns zu Boden gedrückt hat und wir uns allein in völliger Dunkelheit befinden. Sich in völliger Dunkelheit zu befinden, ohne einen deutlichen Silberlichtstreifen am Horizont zu sehen und sich trotzdem aufzurappeln, aufzustehen und sich den Gegebenheiten entgegenzustellen, das entspricht einer immensen inneren Kraft, die wir oftmals erst lernen müssen in uns zu finden. So wie hier der kleine Hobbit den Mut zu einem „auf also, vorwärts" aufbringt, selbst, wenn es „(...) wie der Weg ins Morgen oder ins Übermorgen und in noch fernere Tage" scheint. Ein großer Teil der Aufgabe der menschlichen Individuation ist es, sich genau dann, wenn es aussichtslos und ausweglos erscheint,  sich genau in diesem Moment wieder aufzuraffen, seine letzten Kräfte zusammen zu nehmen und aktiv nach einer Lösung zu suchen.

Manchmal findet man sich in Situationen und Lebensphasen wieder, die eine einzige Qual, eine einzige Ungewissheit sind. Und dann los zu gehen ohne zu wissen, was einen erwartet oder zu wissen, ob man überhaupt irgendwann die Möglichkeit hat sich den zugreifenden Kräften zu entwinden, - das ist die Herausforderung und die Frage, die dieses Leben uns stellt. Es gibt also Situationen in denen man sehr verzweifelt ist und in denen nur noch der Weg nach vorne offen ist und auch weiter hilft. Wo man nicht zurück, nach hinten, oder zur Seite ausweichen kann, sondern nur noch hindurchgehen kann. („Zurückgehen? Keinesfalls! Einen Seitenweg gehen? Unmöglich!  Vorwärts gehen? Das einzig Richtige! Auf also, vorwärts!"). So sehr man es sich vielleicht auch anders wünschen würde. Man kann nicht zurück in die Vergangenheit, um dort rückblickend verändernd einzugreifen, man kann nicht zur Seite, dem Hindernis einfach ausweichen, kann nicht einfach auf der gleichen Stelle verharren, sondern wenn man in seiner Entwicklung weiter will, hat man oftmals nur noch die Möglichkeiten sich abzufinden und durch das Unsägliche hindurchzugehen. Durch die Tiefe der Trauer, das Gefühl des Getrenntseins von all den anderen hindurch, wieder seinen Weg aufzunehmen und fortzusetzen. Stirbt ein geliebter Mensch, eine Beziehung, eine Hoffnung kann man mit dem Schicksal bis in die Unendlichkeit hadern oder man kann sich auch ohne Licht in der Dunkelheit auf den Weg machen. Manchmal vielleicht nur kriechend, manchmal halb aufgerichtet und mit zunehmenden Kräften und Glauben an einen selbst auch gänzlich zur vollen Gestalt aufgerichtet. Es gibt Lebenssituationen, da muss man einfach nach dem Motto leben: Augen zu und durch. Getrieben von der Gewissheit, dass das was grenzenlos aussieht, auch irgendwann einmal zu Ende sein wird. Bisweilen erscheint uns ein Schmerz so tiefgehend, dass wir nicht mehr glauben können, dass dieser irgendwann einmal aufhören wird. Alles ist dunkel um uns herum, gefühlsmäßig bis in alle Ewigkeit. Und trotz dieses Gefühls aufzustehen und zu versuchen aufrecht zu gehen, das ist der Sieg über uns selbst, der uns abgefordert wird.

Nach anderen Möglichkeiten zu schielen, würde uns nur Kraft kosten und Energie abziehen von der aktuellen Bewältigung der gestellten Lebensaufgabe. Sich hinzusetzen und in dieser vertrackten Situation zu jammern und zu klagen, hätte dem Hobbit viel Kraft gekostet, - sein Jammern oder das Anzünden eines Beruhigungspfeifchens hätte vielleicht die Orks auf den Plan gerufen. Dort sitzend und alleinig abwartend oder gar auf Hilfe von außen wartend, wäre Bilbo immer mehr vom Fleisch gefallen und seine Situation hätte sich vielleicht immer noch weiter verschlechtert. So nimmt er all seinen Mut zusammen und tut, was getan werden muss. Er geht aktiv und offen durch diese missliche Situation. Und allein aktiv zu werden und dem Schicksal zu trotzen kann uns sehr viele innere Kraftressourcen eröffnen. So wünsche ich dir den Mut und die Kraft, wie sie uns hier der Hobbit vorlebt, erhobenen Hauptes durch die dunklen Strecken deines Lebens zu gehen - in deinem Geist eine symbolisch flammende Klinge tragend, die dir auch in der tiefsten Dunkelheit die Gewissheit gibt, ein Teil der Menschheit zu sein, die an einen Sinn im Leben und an einen Sieg der hellen über die dunklen Mächte glaubt. Und dieser Glauben in seinem umfassenden Anspruch gelebt, kann dich stark machen. Stark genug, um allen Widrigkeiten dieses Lebens trotzen zu können.

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt