5.Kapitel Die Integration des Schattens

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„Tief unten an dem dunklen Wasser lebte der alte Gollum. Ich weiß nicht, woher er kam, nicht, wer oder was er war. Er war Gollum - und er war so dunkel wie die Finsternis (...)"

Betrachtet man das Kapitel nun aber auch nach dem Motto „Wie innen so außen", eröffnet sich der Interpretation ein neuer Zugang. Wie wir bereits im letzten Kapitel gesehen haben, findet der Kampf nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb unserer selbst statt. In diesem Sinne kann das Wesen Gollum als der versinnbildlichte Schatten im Sinne der Psychologie von C.G.Jung verstanden werden. Folgt man der Tolkienschen Abstammungslehre, dann war Gollum zu Vorzeiten genau wie Bilbo ein Hobbit, bevor Gollum durch die schädigenden Einflüsse des Ringes zu dem wurde, was er jetzt darstellt. In dem Ungeheuer ist demnach alles verdinglicht, was auch in Bilbo als Lebensmöglichkeit angelegt ist. Was Bilbo aber nicht ausgelebt hat oder ausleben musste, da er in einer anderen, ihm wohlgesonnenen Umgebung aufgewachsen ist und von wohlmeinenden Bedingungen umgeben war. Wo Bilbo die guten Seiten leben kann, lebt das Ungeheuer die negativen Hobbitseiten. Wo der eine im Sonnenschein aufgewachsen ist, lebt der andere in den Untiefen und der Dunkelheit einer gänzlich unwirtlichen Höhle. Wo der eine Weggefährten hat, ist der andere vereinsamt und wird über die Zeit immer seltsamer und verschrobener. So redet Gollum von sich nur als „wir". Wo der wohlwollende zwischenmenschliche Austausch fehlt -und das ist bei der zunehmenden Isolation des Einzelindividuums in unserer Gesellschaft immer häufiger - da kann es zu seltsamen Blüten in den menschlichen Verhaltensmustern kommen („Was issst das bloß, mein Schatzzz? Wisperte Gollum (der immer nur zu sich selbst sprach, da er niemals jemand hatte, zu dem er hätte sprechen können").

In der Gestalt Gollums begegnet Bilbo demnach seinem eigenen Schatten. Gollum lebt Seiten dieses Lebens und Charakterzüge aus, die unserem Mr. Hobbit glücklicherweise erspart bleiben. Der Hobbit lebt uns vor, wie viel es einem in der eigenen Entwicklung weiterbringen kann, wenn man seinen eigenen Schatten nicht bekämpft, sondern ihm ein Lebensrecht zuerkennt. Gegen den eigenen Schatten blindlings anzukämpfen, bringt nicht weiter, weiter bringt uns nur ihn ins eigene Bewusstsein und in die Bewusstseinsfähigkeit zu heben und tolerant uns selbst gegenüber zu sein. Indem Bilbo nicht gegen den außen in Form Gollums sichtbarwerdenden Schatten ankämpft, integriert er Anteile von Gollum in sich selbst. Er lernt das leben zu lassen, was auch tief verborgen als Möglichkeit in ihm selbst schlummert. Er erkennt im anderen, außerhalb von sich selbst etwas, was in ihm eigene Anteile zum Schwingen bringt. Genau wie Bilbo Gollum nicht aburteilt, ihn nicht mit allen Mitteln bekämpft, sollten auch wir in uns dieselbe Fähigkeit herausbilden, die es uns erlaubt, solchen negativen Bestrebungen toleranter und verständnisvoller gegenüber zu stehen. Dann können wir mit uns selbst entspannter umgehen, wir verbrauchen nicht mehr soviel Energie zum Verdrängen vermeintlich nicht lebenswerter Impulse. Darüber können wir eine nie gekannte Handlungsfreiheit in uns verspüren.

Integrieren wir auch negative, destruktive, unmoralische Gesichtspunkte in unsere eigene Psyche, lassen wir die Grenzen zwischen Ich- und Nicht-Ich-Eigenschaften fließender werden, dann führt dies, das wissen wir aus der Psychotherapieforschung, zu einem stabileren, kräftigeren -leichterem Ich, mit all den unsere Gefühle auflockernden Konsequenzen. Dem Freiwerden von Energien, die sonst für den inneren Kampf abgestellt werden. Freiwerdende Energie, die nun bereit steht für produktivere Vorgänge in der menschlichen Psyche. Es fällt sicherlich schwer, das Wissen zu integrieren, dass auch wir zum Stehlen, Lügen, Töten, Betrügen, Hintergehen fähig sind, dass auch wir Tendenzen tief in uns versteckt tragen, die uns zur Hinterhältigkeit, zur Feindseligkeit, zu Grausamkeit und gar Hass befähigen. Viele dieser Bestrebungen sind nicht umsonst als Handlungsmöglichkeiten weg gesperrt, dafür sind wir schließlich eine uns zu einer höheren Seinsform hin entwickelnde Menschheit. Schließlich haben wir diesbezüglich in unserer Menschheitsentwicklung schon weite Strecken in der moralischen Entwicklung hinter uns gebracht. Verdrängen wir aber als Einzelindividuum zu viel, kämpfen wir gegen zu viele Dinge in uns an, lassen wir auch unseren, zumeist doch relativ harmlosen und ungefährlichen Schattenseiten keine Daseinsberechtigung, sind wir ständig am Kämpfen und Unterdrücken, am Ermeucheln unserer eigenen von uns verdammten Gefühle und Wahrnehmungen. Wie hier in diesem Kapitel Bilbo Gollum schont und nicht zum Tode verurteilt, wäre es gut für unsere psychische Gesundheit, könnten wir dies auch auf uns übertragen und auch auf unsere Innenwelten anwenden.

Sich den destruktiven, moralisch abträglichen Effekten in unserer Psyche zuzuwenden, sie sich bewusst zu machen und sie gedanklich am Leben zu lassen, ist nicht gleichbedeutend damit, ihnen willenlos ausgeliefert zu sein und sich den Handlungsstrang und damit die Kontrolle von ihnen aus der Hand nehmen zu lassen - nein ganz anders eröffnet eine solche Transparenz all unseren Gedanken gegenüber, der Möglichkeit die Tür neue Umgangsformen für sich selbst zu finden und seine eigene psychische Begrenztheit zu erweitern. Unser Ziel sollte sein, in unserer Psyche fließender und weicher zu werden. Fühlbar für uns von innen und sichtbar von außen durch das Ausleben neuartiger, manchmal vielleicht auch ungewohnter Handlungsimpulse. Dabei unseren Handlungsspielraum erweiternd, genau wie es Bilbo hier tut, der sich von dem, den Ausweg versperrenden destruktiven Anteilen, versinnbildlicht durch Gollum, nicht davon abhalten lässt mit einem großen Sprung in die wiedergewonnene Freiheit zu gelangen. Innerlich ist er durch seine freie tolerante Entscheidung Gollum zu schonen, in seinem Selbstbewusstsein und seiner Selbstwirksamkeit gestärkt für seinen kräftigen Sprung. Lassen auch Sie sich nicht abhalten von dem Sprung - aus dem Dunkel, durch das Dunkel - in das Licht.



Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt