13.Kapitel Gesetzte Grenzen können ausgeweitet werden

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Die Finsternis war in der Tat so schwarz, dass, als der Hobbit unerwartet den Stollenausgang erreichte, er mit den Händen in die Luft griff, vorwärts stolperte und längelang hinab in die Höhle rollte!"

In diesem Kapitel hält Tolkien die Geschichte für die versammelte, vom Drachen eingeschüchterte Reisegruppe auf einem hohen Erregungsniveau. Die Nerven aller Abenteurer sind zum Zerreißen gespannt, sitzen sie doch in einer Art hoffnungsloser Falle, - jederzeit erwarten sie das erneute Hereinbrechen des Drachens. Keiner traut der Stille, die eingetreten ist, seit Smaug den oberen Eingang zerstört hat. Für die Reisekameraden bedeutet das Warten in der dunklen Höhle eine kaum auszuhaltende Spannung. Die angespannte Atmosphäre in der sie sich befinden durchzieht das Kapitel wie ein roter Faden. Allerdings, wenn man das Kapitel genau liest, dann sieht man, dass die die erlebten Gefahren, die hier auftreten doch recht kleine sind, die sich schnell als völlig harmlos herausstellen (z.B. die Bilbo erschreckenden Fledermäuse) oder die selbstgemacht sind (immerwährende Hintergrundsangst der Drache könne jeden Augenblick wieder auftauchen). Die wahren elementaren Ereignisse finden derweil ganz woanders statt, nicht da, wo Bilbo und die Zwerge die Drachenhöhle erkunden, sondern in der Stadt der Menschen, wo, zeitgleich, wie wir im nächsten Kapitel erfahren werden, die Menschen verzweifelt gegen den über sie hereinbrechenden Drachen kämpfen. Wie wir also unschwer erkennen können, befinden sich unsere geschätzten Abenteuerer, ohne es selbst zu wissen, im ruhigen „Eye of the Storm" und der Sturm der Drachenwut entlädt sich ganz woanders.

Der hier von Tolkien beschriebene Handlungsstrang bewegt sich quasi auf einer Art Plateau. Bilbo baut seine Führerrolle weiter aus. Er ist nicht mehr derselbe wie früher, scheint nun schon fast gewohnt den Ton anzugeben und Gruppenentscheidungen zu treffen („Thorin! rief Bilbo laut. Was jetzt? Wir sind zwar bewaffnet, was vermag aber eine Rüstung gegen Smaug, den Schrecklichen?(...) Wir sollten uns jetzt nicht um den Schatz kümmern, sondern um einen Fluchtweg"). Bilbo ist Schritt für Schritt zum unhinterfragten Führer der Gruppe geworden. Er bewahrt nach wie vor einen kühlen Kopf und zeigt überragenden, aus der Masse hervorstechenden Mut. Er erweitert seinen Handlungsspielraum und seine Handlungskompetenzen immer weiter. Immer wieder setzt er sich über gesetzte Grenzen hinweg, seien dies reale Grenzen als auch Grenzen innerpsychischer Art, wie die, von denen wir im letzten Kapitel gesprochen haben, als er bei seinem ersten Abstieg hinunter in die Drachenhöhle einen Moment zögert. Den Moment, den er braucht, um die innere Grenze des, - „das kannst du nicht, das willst du nicht, das ist zu gefährlich für dich", hinter sich zu lassen. An dieser Stelle der Erzählung allerdings purzelt er eher unfreiwillig über eine Grenze und zwar der Grenzlinie zwischen dem vermeintlich sicheren Gang und der vermutlich äußerst gefährlichen Drachenhöhle („Die Finsternis war in der Tat so schwarz, dass, als der Hobbit unerwartet den Stollenausgang erreichte, er mit den Händen in die Luft griff, vorwärts stolperte und längelang in die Höhle rollte"). Es ist anzunehmen, dass die Angst vor dem Drachen die gesamte Abenteuergruppe bestimmt lange davon abgehalten hätte, ihre innere Erstarrtheit, die hervorgerufen war durch das Trauma eines alles zertrümmernden wütenden Drachens, der wie eine Elementargewalt über sie hereingebrochen ist, zu überwinden. Dadurch aber, dass Bilbo äußerst unfreiwillig aufgrund seines Hineinstolperns die „Sicherheitszone" verlässt, kann ihnen erst deutlich werden, dass jedenfalls momentan keine große Gefahr droht. („Schließlich konnte es Mister Beutlin nicht länger ertragen. „Verdammter Smaug, elender Wurm!" quietschte er laut. „Hört auf, Verstecken zu spielen! Gebt mir Licht, und dann fresst mich, wenn Ihr mich fangen könnt"). Und was bleibt ihnen schließlich auch noch für ein anderer Weg offen? Der obere Ausgang ist, so stellen sie fest, unwiederbringlich zerstört. Entwicklung ist nur noch in eine Richtung möglich. Noch länger in ihrer Erstarrung zu verharren ist ihnen auch nicht möglich, es hätte ihr sicheres Verderben bedeutet, durch einen todsicheren Hungertod. So wenden sie sich in die einzig noch verbleibende Richtung („Jedenfalls: Der einzige Weg hinaus führt hinunter"). Wiedereinmal gibt es für unsere Freunde wie schon öfter keinerlei Wahl- oder Ausweichmöglichkeiten mehr. Erneut werden sie gezwungen, sich direkt mit dem auseinander zusetzen, was bei ihnen die größte Angst auslöst und zwar sich direkt in die Höhle des Drachens zu begeben. Diese Situation erinnert etwas an Kapitel 9, wo Bilbo die Zwerge zu ihrem Glück, dem Ausbruch aus den Gefängniszellen des Elbenkönigs, richtiggehend den sie weiterführenden Weg aufzwingen muss. Hier wiederum wird die Entwicklung erneut vom Schicksal „angeschubst" und zwar nicht nur im übertragenen Wortsinn. Das Schicksal, welches Bilbo im rechten Moment stolpern lässt, hilft hier dabei die gesamte Gruppe dazu zu bringen, Grenzen zu überschreiten, die sie sonst wie hindernisverweigernde störrische Pferde von allein vielleicht niemals übersprungen hätten. Und hätten die Zwerge vorher aufgegeben, würden zwar Sagen über ihre früheren Abenteuer in Mittelerde über sie erzählt werden, nur ihre Gebeine wären zu diesem Zeitpunkt längst in den dunklen Gängen des Drachenbaus vermodert und dies, obwohl doch die Rettung so nah war und die eigentlich Gefahr, der Drache, schon längst nicht mehr lebt.

Oft also wird erst durch das Überschreiten von Grenzen der verschiedensten Art und Qualität weitere Entwicklung möglich (hier der Fortgang der Geschichte). Am Wendepunkt eines Lebens, sei dieser groß oder eher klein, an dem man merkt, dass es nicht mehr weitergeht, gibt es auch für uns manchmal nur noch einen offenen Weg, dessen Beschreiten vielleicht auch wie ein sehr verzweifeltes Unterfangen erscheint. Ein Weg, in dem man aber nichts desto Trotz, sein Heil suchen muss und diese Richtung selbstbestimmt und selbstbewusst gehen sollte. Erst dann nämlich kann man erfahren, ob man auch an diesem Weg scheitern würde, oder ob das der Weg in die Freiheit ist. Ein Weg, den man verpaßt, wenn man vorher aufgibt und klein bei gibt. Sehr häufig kommt es vor, dass die Gefahr von der man sich bedroht fühlt schon vorüber ist, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Wir haben die Grenzen akzeptiert, die der Drache in unserem Leben gezogen hat, und gehen nicht mehr darüber hinaus. Obwohl wie hier in der Geschichte, der Drache bereits tot ist, sind seine Überreste (Gestank, Zerstörungswerk) noch als Mahnmale zu sehen, die uns in unserer Entwicklung behindern. Deswegen ist es gut zu wissen, dass was heute gilt, morgen schon anders sein kann. Wo heute noch Gefahr lauert, kann es sein, dass morgen keine mehr zu finden ist.

Und wir dürfen nicht vergessen: Um Grenzen zu überschreiten hat jeder sein eigenes Tempo und braucht seine eigene Motivation. Niemand, außer vielleicht das Schicksal selbst, kann einen zwingen, sich in Bewegung zu setzen. Hier verdeutlicht an den Zwergen, die lange Zeit brauchen, um sich für den entscheidenden Schritt, die vom Drachen gesetzte Grenzen zu überschreiten, zu motivieren. Als sie sich entscheiden, ihre Ängste und Lebensbegrenzungen zu überschreiten, tun sie dies erstaunlicher Weise aus einem höheren Motiv, aus gelebter Hilfsbereitschaft heraus („Kommt, einer von euch, holt ein anderes Licht! befahl Thorin. Es scheint, wir müssen unserem Meisterdetektiv helfen"). Aber auch Modellernen ermöglicht ihnen, den Abstieg in die Höhle zu wagen. Bilbo hat ihnen vorgemacht, dass das Überschreiten der Grenzen nicht todbringend ist. Ihm können sie nun als gutes Beispiel nacheifern. Den Zwergen gelingt es, durch ihren neu gewonnenen Mut „ihren" Schatz zu finden.

Was aber könnte der „Deine" sein? Denn einen Sachverhalt drückt Tolkien in seiner Symbolsprache gar wunderbar aus. Seine Botschaft lautet: Überwindest du dich und überschreitest Grenzen kannst du dahinter wunderbare Schätze finden. Und zwar, wie ich das sehe, nicht nur Materielle. („Laut sprachen sie, riefen einander zu, hoben die alten Schätze aus dem großen Durcheinander auf oder hingen sie von den Wänden ab, hielten sie ans Licht und streichelten sie zärtlich").

Immer wieder wird es in unserem Leben solche Schwellen geben, über die wir nur ungern gehen wollen, die uns aber genau, so sie überwunden sind, direktest auf uns und unsere Selbsterweiterung zuführen können. So ist es manchmal gut vom Schicksal einen liebevollen Schubs zu bekommen, der uns hilft unsere Grenzen, inneren Hemmnisse, selbstauferlegten Beschränkungen zu überschreiten. Um erstaunt festzustellen, dass dahinter unerwarteter Weise fruchtbare, gangbare Wege liegen, sich uns nie gekannte Schätze und innere Kostbarkeiten eröffnen. Vielleicht kann sich durch das Überqueren von inneren Grenzen ein neuer, vielleicht nie gekannter Charakterzug entwickeln und neue Welterkenntnisse und Erfahrungen gewonnen werden. Und vor allem können wir dadurch erfahren, dass Angst zwar ein wichtiges Signal sein kann, aber manchmal auch, die Grenzen der Angst überwunden werden müssen, um nicht an den Mauern dieses hemmenden Gefühls für immer festzuhängen. Ängste zu spüren, kann ein Aufruf zur weiteren Entwicklung für uns bedeuten, ein Signal dafür sein, dass wir kurz vor dem Erstarren stehen. Und es ist wichtig zu wissen, dass Ängste immer wieder überwunden und in Stärken transformiert werden können. Hervorzuheben ist des weiteren, wie bedeutsam es ist, unsere Ängste ernst zu nehmen, dabei aber zu wissen, dass vermeintliche Gefahrenquellen sich auch immer verändern können. Was heute gefährlich sein kann, muss es morgen nicht mehr sein. Etwas was uns heute, - in unserer Kindheit, Jugend überfordert hätte, braucht es heute nicht mehr zwangsläufig zu tun, jetzt da wir abenteuererprobte Erwachsene sind und wir damit auch fähiger sind, mit Problemen aktiv und konstruktiver umzugehen. Schließlich bringen wir nun mehr Wissen und Können mit, um der Situation zu trotzen. Und außerdem gibt es ja, so sollten wir uns erinnern, oftmals nur diesen einen Weg des Ausprobierens, der uns weiterbringt, in Abgrenzung zu dem Weg des offensichtlichen unausweichlichen Scheiterns. Und wer will schon scheitern, wenn der Drache doch längst tot ist?


Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt