4.Kapitel Standortbestimmung: wo stehe ich selbst im Kampf der Kräfte?

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„Er besaß ein so edles und schönes Gesicht, wie ein Elbenfürst, war so stark wie ein Krieger, so weise wie ein Zauberer, und so ehrwürdig wie ein Zwergenkönig und so freundlich wie der Sommer"

Aber lasst uns bei unserer Beurteilung der negativen Kräfte in dieser Welt sehr achtsam sein und nicht so stark polarisierend an die Dimension des Bösen herangehen. Das Böse liegt, so behaupte ich, nicht so sehr außerhalb von uns selbst, sondern sehr häufig in Gedanken und unbedachten Handlungen auch in uns selbst. Die Zerstörung der Natur, das Leiden von großen Teilen der Weltbevölkerung, das Verschwinden vieler elementarster menschlicher Werte breitet sich immer weiter aus. Wie ist das möglich? Muss man sich da nicht selbstkritisch fragen: Findet das Böse nicht auch Nährboden in mir selbst? Wie ist es sonst möglich, dass in Gesellschaften, die sich in oberflächlicher und traditioneller Weise nach bestimmten Werten richten, diese Werte vom Einzelindividuum nur noch mangelhaft ausgefüllt werden? Oder aber andersherum: Das Einzelwesen versucht positive konstruktive Bestrebungen zu leben, wird daran aber von unzähligen anderen gehindert und wieder in den Sog „Warum sollte ich mich verändern, wenn die anderen nicht dazu bereit sind" gezogen.

Dementsprechend muss der Kampf nicht nur außerhalb von uns geführt werden, sondern auch und vorrangig in uns selbst. Diese Doppelperspektive jeglicher Entwicklung wird auch im „kleinen Hobbit" deutlich. So kämpft Bilbo gegen Orks, Spinnen, Drachen etc. , als sichtbare Manifestationen böser Mächte, aber er muss auch mehr als einmal gegen seine eigenen inneren Impulse und Reaktionsformen ankämpfen. Dieser innere Kampf wird im Verlauf des Buches immer deutlicher und gipfelt in den zentralen Endkapiteln, in denen dem kleinen Hobbit der endgültige innere Sieg über sich gelingt. Bis jetzt wurden bei unserem Meisterhobbit folgende abträglichen Tendenzen sichtbar: sich selbst zu beweihräuchern, etwas darstellen zu wollen, entwicklungshemmenden Impulsen nach Sicherheit um jeden Preis nachgeben zu wollen. Von Stufe zu Stufe jedoch, in denen er dieses, seiner Entwicklung schädliche Wollen und Tun hinter sich lässt, gewinnt er mehr an Echtheit und bewundernswerten Charakterzügen. Nur das Zulassen der Erkenntnis, dass wir nicht nur Helden und Meisterdiebe sind, sondern manchmal auch Seiten an uns haben, die denen der Zwerge und bisweilen sogar denen der Orks sehr ähnlich sind, kann uns langfristig in unserer Entwicklung weiterbringen. Oder wie wollen wir dem äußeren „Bösen" begegnen, wenn wir nicht einmal im Stande sind, solche Bestrebungen in uns zu erkennen und zu bekämpfen?

So findet unser Kampf gegen hemmende und destruktive Einflüsse in bezug auf die Menschlichkeit insgesamt und im Kleinen in unserer eigenen Persönlichkeitsentwicklung auf zwei Ebenen statt: Der Versuch derTransformation unserer selbst und der Transformation der Welt um uns herum. Somit bleibt aber noch die Frage offen: Was sind die Schwerter und Abwehrmechanismen, die man als Mensch gegen das Böse nun tatsächlich hat? Und seien sie sich dabei ganz sicher, es gibt sie, die speziellen Waffen, die dem Guten den Durchbruch gegen die antagonistischen Bestrebungen ermöglichen. Wir sind menschen- und lebensverachtenden Verhaltensweisen, die allzu oft leider noch diese Welt beherrschen, nicht hilflos ausgeliefert.

Erster Vorbereitungsschritt für die Schlacht der Mächte ist, sich klar zu werden, welche Mittel zum Kampf man selber zur Verfügung hat. Man muss sich klarmachen, was einen als Person ausmacht, welche Talente, gute Charakterzüge und Stärken man schon aufweist und was man als Einzelindividuum bereits als Waffe gegen das Böse zu bieten hat, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Mache dafür zuerst eine ehrliche und selbstkritische Bestandsaufnahme. Und das Gute bei dieser Charakterinventur ist, du brauchst dir selbst dabei nichts vormachen. Es schaut dir dabei niemand über die Schulter, der dich verurteilen könnte. Zum Glück haben wir es nicht nötig uns selbst etwas vorzulügen. Genau das, was unser Bewusstsein uns sagt, ist das was wir sind - wenn wir ihm vorurteilsfrei und offen zuhören. Bist du ein feengleiches Wesen, welches vom kleinsten Luftstoß der Realität umgeblasen wird oder ein übermütiger Kobold, der nichts und niemand wichtig nimmt? Nimm dich wahr wie du am Start deines Abenteuers bist und dann triff eine bewusste Wahl zu welcher Seite du überhaupt gehören willst in der Schlacht der Giganten. Bist du mehr Zwerg oder Ork, Drache, vielredender Bürgermeister, heldenhafter Jüngling, heimeliger Hobbit, schleimiger Gollum, - oder von jedem etwas? Wer würde nicht gerne diese Aussage über sich hören: „Er besaß ein so edles und schönes Gesicht, wie ein Elbenfürst, war so stark wie ein Krieger, so weise wie ein Zauberer, und so ehrwürdig wie ein Zwergenkönig und so freundlich wie der Sommer". So zu werden kann immer nur Ziel, niemals aber endgültige Wirklichkeit werden. Wir können uns immer nur unserer Idealform annähren, nie aber sie erreichen. Man kann lernen solche guten, edlen Eigenschaften in sich selbst heran zu züchten. Vor hemmendem Perfektionismus muss aber gewarnt werden, man kann selbstverständlich nicht alle Eigenschaften der Welt haben und entwickeln und braucht dies auch gar nicht. Denn wer will schon die Grausamkeit eines Kriegers, die Undurchschaubarkeit und Unnahbarkeit eines Zauberers und die Gier eines Zwergenkönigs haben?

Es geht also darum zu unterscheiden, welche Anlagen habe ich bereits in mir angelegt und wohin will ich mich entwickeln. Und dann gehört eine Portion lebenslanger Arbeit dazu die Person zu werden, die man sein möchte. Das Ziel ist also, sich immer bewusster zu werden, wer bin ich, wer will ich sein und wer könnte ich sein, wenn ich nur ausdauernd darum ringe. Viel mehr ist dabei möglich als man denkt. Der menschliche Geist ist plastischer als früher angenommen.

Und nicht zu vergessen, wir sind oftmals die Knetmasse und das Schicksal ist die knetende Kraft. So arbeiten Kräfte an uns, die, wenn wir sie auch an uns wirken lassen, uns immer in Richtung auf unser Lebensziel hin formen. Wie alles im Leben wird uns auch diese „Charakterformung" nicht zu fliegen, dafür aber die damit einhergehenden Früchte unserer Arbeit: sich selbst mehr zu schätzen, mehr Freunde zu bekommen, mehr Lebenssinn, mehr Zusammenhalt in der Familie usw. usw.

So ist es weise, sich dann und wann aus dem Alltagsgeschehen zurückzuziehen und eine Ist-Soll-Abklärung zu machen. Unvoreingenommen und unverfälscht zu untersuchen, welche Eigenschaften bringe ich mit und diese dann zu vergleichen mit dem innerlich angestrebten Sollzustand. Der wahrhaftige Selbstfindungsprozess ist ein Bekenntnis zu den guten Kräften und Entwicklungen in diesem Leben und ein in Kauf nehmen aller damit verbundenen Konsequenzen. Wenn wir diesen Weg beschreiten, bedeutet dies nicht immer nur den einfachsten, oberflächlich attraktivsten Weg gehen zu können, sondern immer zu seinen eigenen Wertvorstellungen zu stehen, auch wenn diese vergleichbar schwerer umsetzbar sind. Die Konsequenz einer solchen Entwicklungsbestrebung ist der Wille, mehr aus sich zu machen und mehr gegen die negativen, destruktiven Seiten in sich selbst anzukämpfen. Gegen all die hemmenden Eigenschaften und Veranlagungen anzugehen, um sich am Ende durchzusetzen. Selbstwerdung ist ja kein Spiel aus sich selbst heraus und um sich selbst drehend, sondern es ist das Bekenntnis zu einem Sinn im Leben, zu einem Standhalten gegen die ambivalenten Bestrebungen in unserem Leben, die uns an einer positiven Entwicklung hindern. Das Böse stellt sich der Entwicklung in den Weg, versucht die Selbstwerdung zu verhindern und in Sackgassen zu leiten. Das Böse ist der Widerpart, der Widerstand, der uns hindert an unserem Ziel anzukommen.

Auf der anderen Seite aber kristallisiert die Auseinandersetzung mit den Dingen, die nicht so sind, wie sie sein sollten, in uns auch die edelsten menschlichen Empfindungen und Hand-lungen heraus. Verfolgen können wir dies sehr gut in diesem Kapitel, wo es um den Kampf mit den Orks geht. Unsere Reisegruppe führt uns meisterlich vor Augen, wie die einzelnen Gruppenmitglieder durch die Auseinandersetzung mit dem Bösen geläutert werden („Nur eine halbe Minute, sagte Dori, ein prächtiger Bursche, der dicht vor Bilbo am Kettenende rannte. Er ließ den Hobbit auf seine Schultern krabbeln, so gut es mit gebundenen Händen ging und dann fingen sie an zu rennen (...)"). Welche Kräfte müssen in einem Lebewesen am Werke sein, die es ihm möglich machen in Zeiten größter Angst und Bedrängnis so über sich hinaus zu wachsen? Eine wirksame Waffe gegen all die Übel dieser Welt ist es, durch gemeinsamen Zusammenhalt den destruktiv wirkenden Kräften zu trotzen. Das Herausbilden von Werten wie Kameradschaft, Freundschaft („Obgleich er nicht allmächtig war, konnte er doch für Freunde, die in der Klemme saßen, eine Menge erreichen") bis hin zur Opferbereitschaft (Gandalf begibt sich hier ganz freiwillig in die Gefahr für seine Freunde) sind elementare, zutiefst menschliche Antworten auf den Druck des Bösen. Verantwortungsübernahme und freiwillige mutige Entschlossenheit tun ihr übriges hinzu, um den dunklen Mächten die Stirn zu bieten.

Wut über entmenschlichende Geschehnisse und elementare Ungerechtigkeiten ist ebenfalls eine gute Antriebskraft. Eine direkt auf etwas gezielte, in konstruktive Kanäle kanalisierte Wut ist eine starke Kraft, sollte aber immer abgegrenzt werden von einer blindwütigen, richtungslosen Wut, wie sie in diesem Kapitel von den Orks repräsentiert wird. Eine das Böse zerstörende Wut, wie die von den Elbenklingen symbolisierte Kraft muss zielgenau und gerichtet benutzt werden („Er nahm sein Schwert heraus und wieder erglühte es im Dunkeln. Jedesmal, wenn Orks in der Nähe waren, brannte es vor Wut. Nun aber war es eine leuchtend blaue Flamme aus Freude darüber, dass es den großen Fürsten der Höhle getötet hatte").

So lässt es sich schon sehr gut an dieses vierte Kapitel und macht uns gespannt, was an Transformationen und Entwicklungsmöglichkeiten noch versteckt sind, in dieser doch sehr unterschiedlich zusammengesetzten Reisegemeinschaft - und zu guter Letzt auch in uns selbst.

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt