7.Kapitel Zu Freunde werden

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Zuerst starrte der große Mann sie recht finster an, aber sie taten wirklich ihr Bestes, furchtbar nett und höflich zu sein. Unaufhörlich nickten sie, bückten, verbeugten sich und schwenkten ihre Kapuzen vor den Knien (in typischerZwergenmanier), bis er aufhörte, sie finster anzublicken und in ein gewaltiges Gelächter ausbrach. Sie sahen zu komisch aus"

Schauen wir uns den Ablauf doch noch einmal genauer an: Zuerst sind einige von uns Menschen zu Beginn einer Bekanntschaft sehr scheu, vorsichtig, sogar misstrauisch und eventuell sogar voreingenommen, - zu oft hat man ja bereits früher schon schlechte Erfahrung gemacht. Diese Phase geht manchmal sogar soweit, dass man vor der anderen Person richtiggehend Angst hat. Angst man könnte durch den Gegenüber verletzt oder enttäuscht werden. Aber dabei sollten wir, wie wir es aus der Geschichte entnehmen können, nicht aus den Augen verlieren, dass es ganz und gar legitim ist, sich am Anfang gegenseitig regelrecht auszutesten, sich ausführlich zu beschnuppern, bevor man sich auf weitere Stadien im Bau der Freundschaftspyramide einlässt. Durch dieses Austesten, Überprüfen, durch das Informationssammeln über den anderen kommt man zunehmend zu einer Vorstufe gegenseitigen Vertrauens. Wenn dann Schritt für Schritt Vertrauensbeweise von beiden jeweils erbracht werden, und man sich noch dazu gemeinsam unterstützt, gemeinsam genießt, - wie hier die Zwerge mit Essen und Geschichten, dann kann man schon bemerken, dass die Freundschaft auf einer relativ sicheren Basis steht. Zu beachten dabei ist aber: Freundschaft besteht aus sich unterstützen, in schwierigen Lagen zusammen zu stehen, aber - um das Gleichgewicht zu halten, braucht es auch Phasen, die ungestört genossen werden müssen (gemeinsame Hobbys, gemeinsame Genüsse, etc.). Dieser Sachverhalt und Stabilisierungsfaktor von Freundschaften wird häufig vergessen oder übersehen, vor allem in langandauernden Partnerschaften. Der andere ist nicht nur der Helfende, sondern auch der, dem geholfen werden muss. Und eine Freundschaft ist nicht nur ein Hilfssystem, sondern auch ein Mittel, die Welt in der Gemeinschaft mit anderen intensiver genießen zu können. Wichtiger Stellenwert in einer Freundschaft ist also, nicht nur die Probleme durchzuarbeiten, sondern sich auch von ihnen gemeinsam abzulenken.

Zentral ist auch, uns mit unserem eigenen Misstrauen zu verstehen, uns nicht zu überfordern mit zu schneller Selbstoffenbarung bei uns selbst und auch nicht den anderen zu schnell dazu voran zu treiben. Alles hat seine Zeit und sein inneres Wachstum, wir können keinen Seilzug anbringen, um das Freundschaftspflänzchen schneller wachsen zu lassen. Genau diese Ungeduld kann es schon im Entstehen zerstören. Deshalb ist das Schließen einer Freundschaft auch immer ein Prozess, wie das Schälen einer Zwiebel, wo man immer tiefer zum wahren Kern vordringt und je besser man den anderen kennen lernt, auch besser weiß, wie man mit bestimmten Gegebenheiten umgehen kann.

Erschwert wird das Schließen von Freundschaften aber auch dadurch, dass wir Menschen in uns nicht einheitliche Wesen sind, sondern ebenso wie Beorn Wandelmenschen mit sehr vielen in uns verborgenen Polaritäten. So sieht man bei Beorn, dass er von der Polarität „Sanft" zu einem gefährlichen Raubtier wechseln kann, von jemand Helfenden zu einer drohenden Gefahr werden kann - so dürfen seine Besucher seine gastlichen Hallen des Nachts auf keinen Fall verlassen („Was habt Ihr mit dem Ork und dem Warg gemacht? fragte Bilbo plötzlich. Kommt und seht, sagte Beorn, und sie folgten ihm um das Haus. Ein Orkkopf stak auf dem Gatter, und ein Wargfell war draußen an einen Baumstamm genagelt. Beorn war ein schrecklicher Feind. Aber jetzt war er ihr Freund, und Gandalf hielt es für klug, ihm ihre ganze Geschichte zu erzählen und den Grund für ihre Reise, so dass sie alle nur mögliche Hilfe von ihm bekommen konnten"). Wir müssen uns bewusst sein, dass wir häufig auf Menschen mit solchen Polaritäten treffen werden, bei denen wir nicht wissen, woran wir denn nun eigentlich wirklich sind. Öffnen wir uns hier zu früh und zu schnell und vertrauen, ohne den anderen genau kennen gelernt zu haben, werden wir leicht, oftmals vom anderen überhaupt nicht so gewollt, verletzt. Auf der anderen Seite der Medaille ist aber auch deutlich, dass wir als Person selbst voller solcher Polaritäten sind, voller Gut und Böse, manchmal voller Extreme, - wandelbar und für andere damit auch unvorhersehbar. Das Ziel könnte sein, die Polaritäten nicht zu bekämpfen und ihnen ihre Existenzberechtigung abzusprechen, und sich auch nicht deswegen zu verurteilen, denn sie sind zutiefst menschlich. Sondern mit diesen verschiedenen Anteile in uns leben zu lernen und anderen beizubringen mit uns auszukommen wie wir sind, in all unserer Vielschichtigkeit. Es ist nicht der Sinn und Zweck die Polarität zu verdrängen, vor den anderen zu verbergen und geheim zu halten, sondern unseren Mitmenschen genaue und konkrete Hinweise und Handlungsanweisungen zu geben, - eine ArtGebrauchsanweisung, wie sie mit diesen Seiten an uns umgehen könnten. Genauso wie es hier Beorn macht („Aber ich warne euch alle, vergesst nicht, was Beorn uns sagte, ehe er ging: „Ihr dürft nicht hinausgehen, ehe die Sonne kommt, bei Leib und Leben nicht!"). Er verdeutlicht den Zwergen, dass sie nachts nicht hinaus dürfen, denn sonst werden sie mit der anderen Polarität von ihm massivst konfrontiert werden. Es ist also wichtig sich selbst in seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit akzeptieren zu lernen, aber auch ebenso das jeweilige Gegenüber. Das Ziel sollte sein, die Polaritäten kennen zu lernen, sie auszubalanzieren und dem Anderen deutlich und selbstbewusst vor die Augen zu führen. Diese Tendenzen in der anderen Person nicht zu bekämpfen und als nicht-existenzberechtigt dagegen anzukämpfen, sondern den Anderen so sein zu lassen, wie er ist und sich mit seiner Person und seinen Eigenschaften, Vorlieben, Schwächen auch zu arrangieren. Denn auch wir selbst, dass sollten wir nicht vergessen, sind Menschen mit Ecken und Kanten, die sich im Grunde nur wünschen so geliebt zu werden, wie wir sind, ohne uns verstellen oder verbiegen zu müssen.

Aber auch wir sehen uns leider häufig mit der Realität konfrontiert, dass viele von uns, genau wie Beorn, am Rande des Nachtwaldes leben müssen. In einer menschenfeindlichen Umgebung - wo man nicht weiß, wer Freund, wer Feind ist, weil man schon so viele schlechte Erfahrungen gemacht hat. Und fühlen wir uns nicht auch manchmal, ebenso wie Beorn, durch frühere schlechte Erfahrungen geradezu gezwungen, vorsichtig zu sein, wohl wissend, dass nicht alle Menschen nur Engel sind, die nur unser Wohlergehen im Kopf haben? Leider ist es in unserer „wirklichen" Welt wie schon gesagt, nicht so, dass man sofort zuordnen könnte zu welcher Gattung (Freund oder Feind) jemand gehört. Dies gilt es erst langsam und vorsichtig herauszufinden. Trotz gemachter schlechter Erfahrung und dem Erleben, dass Freundschafts-zyklen in der Vergangenheit bereits gescheitert sind, ist es schwer, bei sich und anderen, immer wieder aufs Neue zu versuchen innerlich aufzumachen und wieder Vertrauen zu einer fremden Person aufzubauen - in einer manchmal potentiell gefährlichen und in Strecken entmenschlichten Welt, die uns häufig feindlich und kalt anmutet.

Aber selbst, wenn wir am Rande des Nachtwaldes lebten, sollten wir nicht verzweifeln und nicht pauschal alle Kontaktmöglichkeiten abbrechen und nicht mehr zulassen. Man kann sehr wohl Freundschaften auf eine andere, sanfte Art aufbauenund vertiefen. So aufbauen und vertiefen, dass der eigene Selbstschutz nicht außer acht gelassen wird. Es ist legitim sich nur Stück für Stück anzunähern. Sollte uns jemand zwingen wollen uns schneller auf die Beziehung einzulassen, uns schneller zu offenbare nund zu öffnen, wie es uns selber lieb ist, ist es wichtig Grenzen zu setzen und den eigenen Rhythmus zu finden, wie es für einen selbst in Ordnung ist und wie es sich gut anfühlt eine Bekanntschaft zu vertiefen. Denn am Rande des Nachtwaldes - am Rande der Kontaktlosigkeit - der menschlichen Einsamkeit besteht die Gefahr,wenn man endlich jemanden entdeckt, den man oberflächlich betrachtet für blütenrein und völlig unbedenklich und vertrauenswürdig hält, dann nach all dem Bangen und Hoffen zu früh alle Türen und Schotten zu öffnen. Der Aufbau jeder Freundschaft hat seinen eigenen Rhythmus und seine eigenen Gesetze und das ist gut so. Aber niemals sollten wir uns einen fremden Rhythmus aufzwingen lassen, denn die „wahren" Freunde gehen unseren Rhythmus mit uns, auch wenn er vielleicht nicht ihr eigener ist und sie vielleicht von sich aus ein schnelleres Tempo einschlagen würden. Denn schließlich sind ja die Zwerge und Gandalf recht aufgeschlossene Gestalten, die wesentlich offener bei Beorn hätten aufmarschieren können. Man denke nur an ihre „Intro-Vorstellung" in der Höhle des Hobbits zu Beginn des Buches. Aber hier haben sie sich auf ihr Gegenüber ganz stark eingestellt und haben seine Persönlichkeit in ihr Vorgehen einbezogen. Sie haben genau das von ihm abverlangt, wofür er noch fähig und bereit war. Nicht mehr und nicht weniger, denn sonst wäre der Freundschaftszyklus an dieser Stelle vermutlicher Weise bereits gescheitert. Es ist wichtig, immer auf die eigenen Gefühle als Wegweiser zu achten - auf die innere Stimme der Intuition und der eigenen Menschenkenntnis. Niemals sollte man diese Stimme in sich zumSchweigen bringen á la: wird schon alles gut gehen, und sich einen neuen Bekannten rosarot denken. Vor allem in Liebesbeziehungen sollte man dem Herz ab und an verstandesgemäße Haltegurte anlegen, die man bei zunehmender Sicherheit in der Beziehung nach und nach abnehmen kann. Auch wenn das anfangs wie ein unmögliches Unterfangen anmutet.

Ein „guter" Freund zusein bzw. zu werden ist demnach ein wichtiger Entwicklungsschritt auf dem langen Weg zur Individuation. Der Mensch an sich ist ein zutiefst soziales Wesen - diese Bedürfnisse wollen erkannt und gelebt werden. Zu einer „selbst-bewussten" Person zu werden - also zu wissen wer genau wir sind und was uns im innersten Kern ausmacht, geht nur in Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Nur im Kontakt und in der Abgrenzung von anderen Ich-bewussten Personen kann man erfahren, wie man selbst die Welt erlebt, welche Prioritäten man setzt und welche Wahl im Leben man treffen will. Es ist auch zu wählen, mit welchen Menschen man sich überhaupt umgeben will;  welche Menschen man auswählt, um sich in ihnen zu erkennen und an ihnen zu wachsen. Schließlich sind wir, bitte nicht vergessen, aktive Gestalter unseres Lebens und das gilt auch für die Freunde die wir in unserem Leben haben oder die Menschen, die wir in unser Leben lassen. Hier in der Geschichte hat der Zauberer einen guten Riecher gehabt, - Beorns guter Ruf ist ihm schon vorangeeilt. Aber zusätzlich konnten die Gefährten spätestens an Beorns Wohnumfeld und seiner Liebe zu Tieren, zur Natur, seiner Gastfreundlichkeit erkennen, dass Beorn ein Wesen mit einem äußerst guten Kern ist - auch wenn er äußerlich eher einschüchternd wirkt („Dicht dabei stand ein gewaltig großer Mann mit dichtem schwarzem Bart und schwarzem Haar; die bloßen Arme und Beine waren mit dicken Muskeln bepackt"). Unterschätze nicht, wie gut man einen Menschen manchmal im Vorfeld schon über solche kleinen Informationen einschätzen kann - wenn man sich dafür die Zeit nimmt. Sei also wählerisch, schließlich geht es auch um dein inneres „Überleben" und Vorankommen. Wähle gut. Es lebe das Leben, und die Freundschaft - und das Abenteuer.

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt