6.Kapitel Jeder will mehr scheinen als er ist - bis er ist, was er ist

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Indessen stieg die Achtung der Zwerge vor Bilbo durch diese Geschichte ganz außerordentlich. Wenn sie bisher noch immer gezweifelt hatten, dass er wirklich ein Meisterdieb erster Klasse war (Gandalfs Worten zum Trotz), so zweifelten sie nun nicht länger daran."

Froh und sichtlich erleichtert den Orks entkommen zu sein, schleicht Bilbo sich heimlich an das Lager seiner Kameraden heran, auf das er glücklicherweise zufällig nach seiner rasanten Flucht gestoßen ist. Von seinem Unsichtbarkeitsring getarnt, stiehlt er sich heran, um seine Freunde mit seinerAnwesenheit zu überraschen, aber was muss er da hören - einzig Gandalf ist bereit zu seiner Rettung zurück in den Orkbau zu gehen - alle anderen seiner Kameraden sind zögerlich, sie wollen Bilbo in diesem Moment nicht zu Hilfe eilen („die Zwerge brummten, warum Gandalf den Hobbit überhaupt mit genommen hätte, warum er nicht bei ihnen geblieben und seinen Freunden ordentlich gefolgt wäre und warum der Zauberer nicht jemand mit mehr Verstand ausgesucht hätte"). Das muss ein herber Schlag für unseren guten Bilbo gewesen sein - erst die Freude seine „Freunde" gefunden zu haben und dann die bittere Erkenntnis, dass diese vermeintlichen Freunde, für die er schon einiges riskiert hat, keine Bereitschaft zeigen zu seiner Rettung etwas beizutragen. Den persönlichen Wert, den die Zwerge in diesem Moment dem Hobbit zuschreiben liegt bei Null („Wenn wir jetzt noch einmal in diese scheußlichen Stollen hinein müssen, um ihn zu suchen, dann zum Henker mit ihm! Das ist meine Meinung"). Das sind deutliche Worte. Jetzt, da der Hobbit für sie scheinbar keinen Nutzen mehr darstellt, sondern vielmehr Belastung, distanzieren sie sich von ihm. Immer noch, wie zu Beginn des Buches, betrachten die Zwerge Bilbo als unnötiges, geradezu störendes Anhängsel, auf dessen Teilnahme am Abenteuer man gut und gerne hätte verzichten können. Immer noch ist es allein Gandalf, der unabdingbar zum Hobbit hält. Obwohl die Kameraden bereits einiges miteinander durchlebt haben, ist zwischen dem Hobbit und den Zwergen keine Freundschaft entstanden - allenfalls Kameradschaft und Zweckgebundenheit der Beziehung.

In diesem Kontext ist das weitere Verhalten des Hobbits deshalb durchaus verständlich und nachvollziehbar. Bilbo nimmt den Ring ab und gibt sich zu erkennen. In seinem Bericht an die anderen, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist, verschweigt er jedoch bewusst aus selbstwertdienlichen Motiven die Existenz des Ringes. Er badet in den positiven Rückmeldungen und in der Bewunderung der Zwerge, die so vermutet er wohl, geschmälert worden wäre, wenn die anderen über die Rolle des Ringes in den Geschehnissen Bescheid gewusst hätten („Bilbo war sehr zufrieden, dass man ihn so lobte. Innerlich lachte er, sagte aber nichts über den Ring. Und als sie ihn fragten, wie er es geschafft habe, antwortete er: "Oh, ich bin nur vorwärts gekrochen, wisst ihr - sehr vorsichtig natürlich und ganz lautlos").

Man stelle sich die Genugtuung vor, es Menschen, die einen nicht mögen und scheinbar nicht für wertvoll halten, so richtig zu zeigen und ihnen Respekt einzuflössen. In diesem Sinne ist das Verhalten unseres Hobbits mehr als verständlich. Immer noch glaubt nur der Zauberer an Bilbo und es ist ihm eine Genugtuung, ihnen allen zeigen zu können, was wirklich in ihm steckt. Besonders, da er sich bis jetzt wirklich noch nicht sehr glorreich hervorgetan hatte, man denke dabei nur an die unselige Situation mit den Trollen. Wenn er auch jetzt nicht alle Dinge so bewältigt hat, wie er es den Zwergen Glauben machen will, ist alles, was er in der dunklen Orkhöhle erlebt hat - und man vergesse dabei nicht die Ausgangslage, Bilbo ist schließlich nur ein kleiner Hobbit - eine grandiose Leistung. Sicher spielt Glück und der Fund des Ringes eine große Rolle. Glück spielt, wenn man genau hinschaut, meist auch im wirklichen Leben eine Rolle aber schmälert das die erbrachte Leistung? Wir als Außenstehende wissen sehr wohl, dass die Leistungen Bilbos selbst ohne die Unterstützung durch den Ring bereits beträchtlich waren. Man denke nur an den Anfang des letzten Kapitels, wo unser kleiner tapferer Hobbit in einer hoffnungslos erscheinenden Situation, allein und verloren im dunklen Höhlensystem der Orks gefangen, in sich den Antrieb aufbringt, sich aus dieser problematischen Situation zu befreien. Auch bei dem Rätselduell mit Gollum hat er sich wacker geschlagen und insbesondere der Sprung im Dunkeln über das ihn bereits witternde Ungetüm ist an sich schon eine Meisterleistung.

Nur die Zwerge hätten es vielleicht nicht so gesehen und alle Resultate allein auf die Wirkung des Ringes bezogen, und davor schützt sich Bilbo. Sein kleines zitterndes Ego hat die Bewunderung doch so nötig. Schließlich waren die Zwerge eben noch nicht bereit für seine Person zurück in die Höhle der Orks zu gehen. Ist es da nicht verständlich, wenn Bilbo seinen Eigenwert aufpolieren will? Wie in ein Vakuum fallen all die positiven bewundernden Bemerkungen der Zwerge. Endlich erhält der Hobbit was er sich so sehnlichst wünscht - er erhält den Respekt der Zwerge („Die Zwerge betrachteten ihn mit einem ganz neuen Respekt, als er davon sprach, wie er die Wachen hereingelegt hatte, wie er über Gollum hinweggesprungen war und sich durch gequetscht hatte, als ob das gar nicht sehr schwer und aufregend gewesen wäre").

So durchläuft unserer hoch wohlgeschätzter Hobbit in diesem Buch verschiedene Entwicklungsstadien seines Selbstbewusstseins und Selbstverwirklichungspotentials. In den vorangegangenen Kapiteln lechzte alles in ihm nach der Bewunderung von anderen. Er strebte danach, sich vor anderen zu beweisen. Was ihn dazu bringt, sich bei der Auseinandersetzung mit den Trollen in eine gefährliche Situation zu begeben - ohne dabei die Risiken richtig abzuschätzen. Statt Bewunderung erhält er dadurch aber die Verärgerung der Gruppe, da er sie durch sein Geltungsstreben unnötig in Gefahr gebracht hat. In diesem Kapitel nun hat er bewiesen, dass mehr in ihm steckt. Er hat sehr viele Herausforderungen erfolgreich bewältigt, wenn auch nicht völlig aus eigenen Kräften, sondern mit der Unterstützung des Rings. Hier also erhält er den Respekt, der ihm zum großen Teil auch zusteht. Er benötigt aber noch seine Verheimlichungstaktik, um die Respektsbezeugungen nicht gleich wieder zu verlieren. Im weiteren Verlauf des Buches aber zeigt er sich des wahren Respekts immer mehr für würdig. Er wird mutiger, selbstbewusster, unabhängiger von der Meinung anderer und durch zunehmende Übung als Meisterdieb auch immer gewiefter und erfolgreicher. Parallel dazu wächst sein zuerst kleines zitterndes Selbstbewusstsein in unmerklichen Stücken. In der momentanen Entwicklungsphase in der er sich befindet, sind Lob und positive Rückmeldungen für ihn jedoch noch überlebenswichtig. Respekt und Wohlwollen von anderen für das, was wir sind und tun, ist auf dem ersten Stadium der Selbstwerdung unabdingbar - sei es noch so wenig. Wir Menschen brauchen diese gegenseitige Rückmeldung, um innerlich immer weiter wachsen zu können. So muss man vielleicht, wenn man diese bedingungslose Zuwendung von seiner Umwelt nicht ausreichend bekommt, seine eigene Strategie überdenken oder seine Umwelt verändern, indem man sich gezielt Menschen sucht, die einen so bedingungslos schätzen, wie Gandalf hier den Hobbit.

Dieses Stadium kann aber nur als Ausgangslage betrachtet werden, auf der wir nicht verharren sollten (sonst könnte das Buch an dieser Stelle schon zu Ende sein), sondern von dieser Basis ausgehend sollten wir, dem Vorbild Bilbos folgend, uns zu immer höheren Bewusstseins- und Selbstbewusstseinsebenen vorarbeiten. Als oberstes Ziel, an dem Bilbo am Ende des Buches tatsächlich geläutert ankommt, steht das „wahre" Selbstbewusstsein, welches unabhängig ist von der Meinung und Bewunderung durch andere, - ein In-sich-Ruhen, mit der Gewissheit, dass auch ohne den Wiederhall des Lobes oder gar gegen Widerstände hinweg, wir das leben, was der Einheit des Universums dienlich ist, so dass unsere Entscheidungen und Handlungen in Übereinstimmung sind mit universellen, an uns als Einzelperson gestellten Forderungen und Abenteuern. Außerdem beinhaltet ein gefestigtes Selbstbewusstsein die Erkenntnis, dass niemand besser als wir selber wissen kann, welche Motive, welche Faktoren unser Handeln bestimmt haben - niemand von außerhalb unserer selbst kann wirklich unser wahres „Selbst" einschätzen und beurteilen. Nur das innere Leben ist das wahre Leben, deshalb kann uns auch niemand besser beurteilen, als wir selbst - wenn wir dabei ehrlich zu uns sind. Im Handeln und Denken von anderen unabhängig zu werden, einzig abhängig von der eigenen Lebenseinschätzung und den eigenen Entscheidungen - das kann das Ziel sein, auch wenn wir, wie der Hobbit auf unserer Selbstverwirklichungsreise noch ganz am Anfang stehen.

Wobei anzumerken ist, dass selbst Wesen auf höheren Bewusstseinstufen wie z.B. Gandalf gegen ein Handeln um der Außenwirkung willen, in einer Art Selbstbeweihräucherung, nicht gefeit sind. Auch ihm tut die Bewunderung der Gefährten gut, als er dem Hobbit berichten soll, wie er die Zwerge aus den Hallen der Orks befreien konnte („Dem Zauberer, um die Wahrheit zu sagen, kam es durchaus nicht ungelegen, seine Gescheitheit noch einmal zu beweisen"). Sind und bleiben wir nicht alle, über alle Bemühen und alle Selbstverwirklichungsbestrebungen hinweg, nur allzu menschliche Menschen?

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt