1.Kapitel Mitten hinein ins Abenteuer Leben

39 6 2
                                    

Abenteuer, „ein ärgerlicher, störender, unbehaglicher Zeitvertreib. So etwas verspätet nur die Mahlzeiten"

Tolkien beginnt seine grandiose Fantasiegeschichte „Der kleine Hobbit" mit einer ausführlichen Beschreibung von - der von ihm ausgesuchten Hauptperson des Buches - Bilbo Beutlin, einem Hobbit. Das Wissen darum, was ein Hobbit ist und das Wissen um den Inhalt des Kapitels wird beim geschätzten Leser vorausgesetzt.

Jener Bilbo Beutlin jedenfalls stammte aus einer angesehenen und allseits respektierten Hobbitfamilie. Bilbo lebte gänzlich unter dem Einfluss, der ihm von seinem Vater Bungo Beutlin vererbten Anlagen. Diese Anlagen lassen ihn Luxus und Behaglichkeit („Es war eine Hobbithöhle, und das bedeutet Behaglichkeit") sehr schätzen, sowie Vorhersehbarkeit und Sicherheit. Mit der familiären Beutlinseite im Zusammenhang stehend sind Achtung und Respekt von Seiten seiner ebenfalls ein wahres „Beutlin-Leben" führenden Mithobbits. Wer unter dem Einfluss der Beutlinseite steht, lebt frei nach dem Motto: Immer beim Gewohnten, beim Althergebrachten bleiben - nur ja keine Aufregung und auf alle Fälle keine Abenteuer. (Beutlins sind anerkannt, „weil sie noch nie in ein Abenteuer verstrickt gewesen waren und nie etwas Unvorhergesehenes getan hatten").

Alles wäre soweit gut und schön gewesen, wenn da nicht tief in Bilbo auch noch eine andere Seite geschlummert hätte - seine Tuksche Seite, die er wiederum von seiner Mutter Belladona Tuck geerbt hat, und die den Gegenpart darstellt zur väterlichen Beutlinseite. Diese Seite in ihm beruht geradezu auf Abenteuerlust, auf Weiterentwicklung und sich im Leben flexibel zu bewegen. Der tucksche Lebensaspekt in ihm wartete nun nur darauf von ihm gelebt zu werden. So behauptet es jedenfalls Tolkien. Ob Bilbo selbst dies zu Beginn seines Abenteuers so sehen kann, ist jedoch mehr als fraglich. („Indessen ist es wahrscheinlich, dass Bilbo,(...) obgleich er doch aussah und sich genauso benahm wie eine zweite Ausgabe seines grundsoliden und behäbigen Vaters, irgend etwas Wunderliches in seinen Anlagen von der Tukseite übernommen hatte. Es war etwas, das nur auf die Chance wartete, um ans Licht zu kommen").

Das Buch „Der kleine Hobbit" ist durchgängig auf die Spannung zwischen diesen sich polarisierenden Motiven der Tukschen- und der Beutlinseite aufgebaut. Das von Tolkien meisterlich verfasste Buch beschreibt in seinem gesamten Verlauf den Prozess des immer mehr Kontaktaufnehmens zur eigenen Tukschen Seite, also zu den eigenen Ursprungskräften, hin zum eigentlichen Lebenssinn, heraus aus der Behaglichkeit des Vor-sich-hin-lebens, hinein ins tosende Abenteuer der menschlichen Individuation.

Die Tuksche Seite ist der feine Ruf des Lebens an uns, den wir immer wieder in uns vernehmen. Es ist ein Aufruf zur Entwicklung, zur Selbstwerdung, zu einem sich zum Sinn hin transzendentierenden und sich nie den vermeintlichen Realitäten beugenden Lebens. Die Tuksche Seite drängt dazu, zu der Person zu werden, die in unseren Anlagen angelegt ist, aber häufig und nur allzu oft in all ihren Dimensionen nicht ausgenutzt, allenfalls erahnt wird. Diese Seite wird oft begrenzt durch die sich immer wieder in den Weg stellende „Beutlin-Seite". Ein Lebensaspekt, der uns immer wieder mit Angst, Sorge, Fragen, Rationalisierungen, Sicherheitsdenken und Hemmungen füllt.

Diese beiden Polaritäten in einem guten Gleichgewicht zu halten, das ist die Herausforderung unseres Lebens. Nicht der Einseitigkeit zu verfallen, sondern auf das flexible Hin-und Herpendeln zwischen diesen beiden Polen hinzuarbeiten. Beide haben ihre Berechtigung, ihren Lebenssinn, ihre Kosten und ihre Nutzen. Sie jeweils in ihrer Ausschließlichkeit zu leben, bringt unsere innere Balance durcheinander. Zum Beispiel derart, dass man an einen Punkt im Leben ankommt, an dem man selbst denkt, man hätte alles erreicht, sich so weit im Leben eingerichtet, wie man es sich vorgestellt hat. Doch plötzlich spürt man, aus dem Untergrund seine tief vergrabene Tuksche Seite, die da sagt, das kann doch noch nicht alles sein und, die, wenn man nicht auf sie hört, mit einem fortschreitenden Gefühl der Unzufriedenheit reagiert.

Richtig gelebtes Leben ist ein Wechselspiel zwischen diesen beiden Seinsformen. Der Hobbit lebt uns vor, wie man lernen kann die Tuksche Seite zu leben, ohne daran zu zerbrechen oder zu scheitern. Stattdessen kann man daran reifen, heranwachsen und zu einer Person werden, die durch und durch erfüllt ist von dem Wissen um die Schicksalsmächte im eigenen Leben. Und wenn wir ehrlich zu uns sind, sehen wir, dass diese Sehnsucht tief in uns immer schon vorhanden war - und ist. Und im Begleiten der Reise des kleinen Hobbits wird uns deutlich, dass der Ruf an uns schon oft ergangen ist: das Schicksal mit seinen einladenden Möglichkeiten schon oft an unsere Tür geklopft hat. Nur allzu oft haben wir darauf aber nicht mit aktiven Leben reagiert, sondern haben den Kopf in den Sand gesteckt oder sogar noch schlimmer diese Regungen in uns abgetötet. Und ohne es recht zu wissen, haben wir uns dadurch unserer eigenen Lebendigkeit beraubt, sind erstarrt in alten Mustern und Rollen.

Aber das Leben gibt uns immer wieder eine neue Chance, auch wenn wir viele ungenutzt an uns vorbeiziehen haben lassen. Es kann jederzeit wieder eine weitere Chance zum Leben in uns erwachen, das ist schließlich der Zauber jeglicher menschlicher Entwicklung. Diese Chance hat jeder, denn jeder hat, ob er es glaubt oder nicht beide Anteile in sich angelegt. Nur leider leben manche die Tuksche Seite in sich, wenn überhaupt, dann zunehmend nur noch in einem Pseudo-Abenteuer-Leben aus. Die absoluten Freizeitabenteurer - abgesichert mit Reiserücktrittsversicherung und Sicherheitsweste klettern, schwimmen und surfen sie durchs Leben und gehen damit der ihnen wirklich gestellten Lebensaufgabe geschickt aus dem Weg. Doch zum Glück gibt es ja auch noch das Schicksal, das einem einen kräftigen Tritt in den Hintern gibt, - „Los beweg dich und ab ins wahre Lebensabenteuer mit dir". „Was du willst nicht - dass ich nicht lache - mal sehen, wer den längeren Atem hat und - eigentlich meine ich es nur gut mit dir".

Der Hobbit selbst hat lange Jahre in der Beschaulichkeit der Beutlin-Seite leben können, in einem Leben das alleinig auf Entspannung, Luxus und Bequemlichkeit aufgebaut war. Aber wie gesagt, die Tuksche Seite wartet nur darauf gelebt zu werden, - freiwillig oder durchs Leben und Schicksal selbst angeschubst, durch Situationen in unserem Lebens mit denen wir uns plötzlich unfreiwillig konfrontiert sehen. Bilbo Beutlin selbst ist laut Tolkien zum Zeitpunkt des Beginns des Abenteuers schon über den Zenit seines Lebens hinaus. Tolkien gibt sein Lebensalter etwa bei fünfzig Jahren an. Genau an diesem Zeitpunkt taucht der Zauberer Gandalf auf, der ihn ins „wahre", pulsierende Leben ruft, ob er nun will oder nicht. („Und außerdem gehe ich sogar noch weiter und schicke Euch in dies besagte Abenteuer. Das ist sehr erheiternd für mich und ausgezeichnet für Euch - und nützlich ist es außerdem - das heißt, wenn ihr es wohlbehalten übersteht").

Heißt das nicht auch für uns, aufmerksam bleiben zu müssen, uns nie in Schein-Sicherheiten wiegen zu können? Der Ruf des Schicksals an uns, kann uns immer treffen - aus der absoluten Sicherheit heraus, die wir uns geschaffen haben. Ausbildung, Eigenheim, fester Job, eine funktionierende Partnerschaft, wohlerzogene Kinder. Wann der Ruf des Lebens an uns kommt, ob in jungen Jahren oder im Alter, ob machtvoll und abrupt oder leise anklopfend, das kann niemand wissen.

Der "Kleine Hobbit" als praktischer Begleiter durch die Reise des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt