Es dauerte gute zwei Tage und am Ende des dritten kamen sie in Assadéi an. Jiran war sofort, als er die Stadttore erblickte, voller Vorfreude. Er hatte noch nie eine andere Elfenstadt gesehen, außer Ryonin, seine Heimatstadt. Umso aufregender war es, eine andere Stadt kennen zu lernen. Außerdem war es eine von den drei neuen Städten. Das hieß, die Häuser waren nicht wie in Ryonin oder Calena in den Bäumen gebaut und sogar mit den Bäumen verwachsen, sondern waren wie die der Menschen aus Steinen auf dem Boden gebaut.
Das erste, was er erkennen konnte, war die stattliche Stadtmauer, mit der der verkümmerte Holzhaufen rund um Ryonin nicht mithalten konnte. Außerdem war sofort sichtbar, dass die Häuser auf dem Boden gebaut worden waren, denn nur wenig Grün spitzelte über die Zinnen der Mauer. Türme reckten sich an den Ecken der Stadtmauer in den Himmel empor und trugen allesamt die Fahne mit dem Wappen der großen Elfenstadt Assadéi darauf. Ein schneeweißes Einhorn mit silbernem Horn. Goan hatte erzählt, dass die Elfen diese Tiere früher gezähmt hatten, um auf ihnen in die Schlacht zu reiten, aber seit der Rebellion waren sie scheinbar wie vom Erdboden verschluckt.
Das Stadttor war groß, so groß wie die Torflügel der Tiala. Sie mussten dennoch an einer kleinen Seitentür klopfen. Ein Fenster öffnete sich und erst nachdem Jirans Gefährten drohend ihre grünen Mäntel gezeigt hatten, ließ der mürrische Wächter sie ein. Das Stadttor war wohl schon länger nicht mehr geöffnet worden. Jiran konnte es verstehen. Wer wollte schon ein riesiges Tor jeden Tag öffnen und am Abend wieder schließen, wenn sowieso niemand die Stadt verließ? Da war es viel einfacher, die kleine Seitentür zu benutzen.
Ein dunkler Gang führte durch das Innere der Mauer. Es wurde noch düsterer, als der Soldat die Eingangstür wieder verschloss. Aus einem Raum mit halb geöffneter Tür fiel Lichtschein auf ihren Weg. Dort spielten drei Soldaten Karten bei dem schummrigen Licht einer kleinen Öllampe. Der Wächter, der sie eingelassen hatte, setzte sich ebenfalls zu den anderen an den Tisch. Die Grünen und Jiran waren schon an dem Zimmer vorbei, aber Jiran konnte noch deutlich hören, wie sich der Wächter darüber beschwerte, dass seine Kameraden ihn einfach ausgelassen hatten. Am Ende des Ganges mussten sie eine schwere Holztür aufdrücken. Dann flutete ihnen wieder das warme Sonnenlicht entgegen.
„Die waren auch schon mal weniger faul! Früher hat da wenigstens eine Fackel gebrannt!", beschwerte sich einer der Grünen.
Der andere stimmte zu. Jiran aber bekam das nicht so richtig mit, denn er starrte begeistert die große Hauptstraße entlang. Die Häuser waren alle unterschiedlich. Die einen groß und andere klein. Manche sahen alt und verfallen aus, andere schienen nagelneu zu sein, wie gerade erst gestrichen oder erbaut. Manche hatten Dächer aus Tonziegeln, aber es gab auch welche aus Holz- und Steinziegeln. Ein buntes Bild, das Assadéi abgab. Auch wegen den Elfen, die durch die Straßen eilten, sich hier und dort einmal etwas zuriefen und ihre Arbeit erledigten. Vielleicht schien es nur so, aber in Ryonin war nie derart viel los. Auch nicht auf der Hauptstraße.
Viele kleine und große Straßen zweigten von der Hauptstraße ab, aber keine war annähernd so breit wie diese. Sie war außerdem so schnurgerade, dass Jiran das andere Tor auf der anderen Seite der Stadt erspähen konnte. Die zwei Türme, die dieses Tor flankierten, ebenso wie das durch das sie gerade gelaufen waren, konnte man noch von hier sehen. Er hatte sich Assadéi größer vorgestellt, aber vielleicht war es auch einfach in die Länge gezogen und nicht in die Breite.
Während die beiden Grünen nach einer Gaststätte mit dem Namen Zum silbernen Horn suchten, achtete Jiran auf seine Umgebung. Er hörte, solange es möglich war, den Elfen hinterher, wenn sie über Themen redeten, die ihn auch interessierten. Er sah sich Häuser an, die besonders schön waren oder die das genaue Gegenteil darstellten. Ein Haus hatte einen wunderschön verzierten Bogen über dem Eingang. Von dort aus führte ein gepflegter Kiesweg zur Eingangstür. Das Haus selbst verfügte über mehrere Stockwerke, war aber rund gebaut, wie ein Baum. Deshalb hatte es sogar eine Baumkrone, aber wie die entstanden war, oder aus was sie bestand, das konnte Jiran nicht sagen. Die anderen Häuser, die er davor bestaunt hatte, waren es auf einmal nicht mehr wert, denn dieses hier übertrumpfte sie alle. Bis sie vor einem heruntergekommenen Haus Halt machten, konnte Jiran kein Gebäude erblicken, das annähernd so interessant und kreativ gebaut worden war.
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Der Blutschrein [2] - Lithorin
FantasíaDer Elfenjunge Jiran ist seinen Verfolgern, den Nachtelfen, mit viel Glück und der Hilfe eines Katzenjägers, der Jiran nicht nur einmal sein Leben gerettet hat, entronnen. Nun kehrt er also zurück in den Alltag, in seine geliebte Elfenstadt Ryonin...