Die Aussicht war gigantisch und das war nicht gelogen. Von den Goldfällen aus konnte man einen guten südlichen Teil des heiligen Waldes überblicken. Der Berg auf dem sie standen, an denen die Gold herunter rauschte, wurde nicht umsonst Riese genannt. Dort, ganz weit unten konnte er Motoro erkennen, die Stadt, von der ständig Rauch aufstieg und die einzige Stadt, die zu sehen war. Bei sieben Elfenstädten, von denen die meisten auch noch nördlicher gelegen waren, war es schwer, mehr als eine zu sehen. Außer er umrundete den großen Berg und blickte von der Nordseite hinaus auf den heiligen Wald. Er fühlte sich groß, wie immer, wenn er hier war. Noch größer fühlte er sich, wenn die Feiern stattfanden, aber bis dahin waren es noch einige Tage. Bis dahin würde er die wunderbare Bergluft tief einatmen, auf den Wald hinab sehen. Auf die Stadt blicken, in der sie vor einem guten Tag noch gerastet hatten, von wo aus sie den Aufstieg zu den Goldfällen begonnen hatten. Und das beste, bis dahin würde er sich mit seinen Freunden aus allen Ecken des heiligen Wal-des treffen und eine schöne Zeit verbringen. Das hatte er sich verdient, es war schließlich ein Jahr her, seit er hier gewesen war und ein Vierteljahr lang hatte er seine Freunde nicht mehr gesehen. Er genoss es jedes Jahr, wenn er hier war. So etwas wie ein jährlicher, wunderschöner Urlaub, nur noch viel, viel besser.
Sarem und Loein standen die Hände auf das wackelige Geländer gestützt am Abgrund. Würde je-mand dort hinunter stürzen, nicht einmal ein Magier würde es wohl vermögen, sich aus dieser Situation heil heraus zu bringen. Trotzdem lehnten sich die beiden mutig gegen das Holzgeländer und kümmerten sich nicht darum, wie es sich verbog. Es hatte jahrelang, vielleicht sogar jahrhundertelang gehalten, dann würde es sie beide jetzt auch noch auf dem Berg behalten. Das schwere Gepäck lastete auf seinen Schultern und seine Kleidung war längst durchnässt von dem Schweiß, den sein Körper seit fast einem Tag ausstieß. Solange hatte der Aufstieg gedauert, solange hatten sie sich wie jedes Jahr nach oben kämpfen müssen. Sie kamen zwar von der anderen Seite des Waldes, aber dieser Teil der Strecke, der Aufstieg, war jedes Mal eine Qual und der anstrengendste Teil ihrer langen Reise.
Nicht nur die Aussicht, sondern auch der Marsch raubten ihm den Atem und so brauchten beide eine Weile, bis sie weitergehen konnten. Es war nicht mehr weit, die goldenen Spitze des Tempelturms war schon zu sehen. Sie spitzelte zwischen einigen Kuppen und Bäumen auf und wäre für einen normalen Wanderer wohl unsichtbar. Nur wenn man wusste, wohin man schauen musste, konnte man das Glitzern in der Sonne ausmachen. Die Priester hatten sich beim Bau auch alle Mühe gegeben, denn früher hatte es noch Wanderer gegeben. Nun war dieses Wort bei den Elfen fast ausgestorben. Wenn es jemand nannte, tippten sich alle nur gegen den Kopf. Das hatte Sarem schon am eigenen Leib erfahren müssen, aber das war lange her und an diese Zeit erinnerte er sich nur ungern.
Der letzte Abschnitt war immer der schönste. Der schmale Weg führte am Abhang stetig nach oben und nur an sehr wenigen Stellen waren Holzgeländer angebracht worden. Obwohl er diesen Weg schon fast in und auswendig kannte, so schaute er doch konzentriert nach vorne. Nur selten warf er einen Blick den Abhang hinunter und bestaunte die Landschaft die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Loein konnte nun nicht mehr neben ihm herlaufen, also schwiegen sie die meiste Zeit. Sowieso waren sie erschöpft und sparten sich ihren Atem lieber auf. Die Serpentinen, die in den Hang geschlagen worden waren, führten sie immer höher hinauf. Der Platz, wo sie die Messe feiern würden, war gelegentlich, wenn sie Glück hatten, sogar über den Wolken. Dann freuten sich alle aus der Gemeinde besonders und lachten über diejenigen da unten, bei denen es dann regnete. Kein Spaß allerdings war es, wenn die Wolken auf gleicher Höhe waren, denn dann konnte man kaum noch die Hand vor Augen sehen. Sarem fand das zwar auch sehr lustig, aber unter diesen Umständen hatten sie die Messen immer verschieben müssen. Heute aber war gutes Wetter und die wenigen Wolken trieben sich in solchen Höhen herum, dass sie die Messen sicher nicht beeinträchtigen würden. Und so wie er das Wetter des heiligen Waldes kannte, setzte es sich immer aus längeren Phasen zusammen. Lange Regen und schlechtes Wetter, dafür selten, aber auch langes und sonniges Wetter, das meistens herrschte.

DU LIEST GERADE
Der Blutschrein [2] - Lithorin
FantasiaDer Elfenjunge Jiran ist seinen Verfolgern, den Nachtelfen, mit viel Glück und der Hilfe eines Katzenjägers, der Jiran nicht nur einmal sein Leben gerettet hat, entronnen. Nun kehrt er also zurück in den Alltag, in seine geliebte Elfenstadt Ryonin...