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-Jaesung-

Mit einem lauten Knall ließ ich die Tür der Bibliothek hinter mir ins Schloss fallen.
„Jongyul, wo bist du?", rief ich verzweifelt. Er musste doch hier sein!

Ich war kurz vor der Schule gewesen, da hatte ich Jongie neben Yunai stehen sehen. Ich war aber noch zu weit entfernt gewesen, um zu hören, was sie sprachen, weswegen ich nur nach meinem Handy griff und über das Handy mithörte, was die beiden sich zu sagen hatten.

Während ich also zu Jongyul gehechtet war, hatte ich gehört, wie er Schluss gemacht hatte und daraufhin geschrien hatte, wie sehr er Yunai doch hassen würde. Guter Junge. Allerdings war er anschließend stürmisch auf den dunklen Schulhof gerast und weil wir auf dem Schulgelände keinen Empfang hatten, war die Verbindung abgebrochen. Yunai hatte ich angebrüllt und dann links liegen lassen und war Jongyul sofort suchen gegangen.

Als erstes hatte ich den kompletten Schulhof abgesucht und die halbe Nachbarschaft zusammengebrüllt, bis mir aufgefallen war, dass die Bibliothek der einzige Ort war, der um diese Uhrzeit geöffnet war. Also versuchte ich nun hier mein Glück, aber sehen konnte ich ihn nicht. Es war alles so dunkel. Das einzige bisschen Licht, das durch die großen Fenster hineinfiel, war das schwache Mondlicht.

Wo die Lichtschalter waren, wusste ich auch nicht. Also rief ich noch einmal.
„Jongyul! Ich weiß, dass du hier bist!" Nichts. Auf einmal vernahm ich ein leises Schluchzen tief im Inneren der Bibliothek. Mit schnellen Schritten folgte ich den herzzerreißenden Schluchzern und fand meinen Jongyul dann letztendlich zusammengekauert an ein Regal gelehnt und auf dem Boden sitzend.

Das schwache Mondlicht erhellte sein verquollenes Gesicht und erst jetzt realisierte ich, wie viel er geweint haben musste. Sein Anblick zerbrach mir mein sowieso schon verzweifeltes Herz. Zwar entwichen ihm leise Schluchzer, aber er weinte einfach nur still vor sich hin. Als er mich erkannte, weiteten sich seine Augen und er schaute mich erschrocken mit seinem nassgeweinten Gesicht an.

„Jaesung", flüsterte er vorsichtig und wischte sich mit seinem Ärmel die Tränen von den Wangen. Sofort stürmte ich zu ihm, ließ mich neben ihn auf den Boden fallen und schloss ihn in eine herzliche Umarmung. Ich hätte ihn niemals allein zu Yunai gehen lassen sollen. Aber momentan wollte ich ihn einfach nie wieder loslassen. Nie wieder.

„Es tut mir so leid, Jongie", murmelte ich in seine Haare, während ich einfach vor ihm kniete und ihn umarmte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich konnte nur hoffen, dass er das nicht bemerkte. Er schien seinen Emotionen jetzt freien Lauf lassen zu können, denn auf einmal begann er bitterlich zu weinen. Ein verbittertes Schluchzen nach dem anderen verließ seinen Mund, während ich einfach nur für ihn da sein konnte und ihm sachte über den Rücken strich.

Den Menschen, den ich über alles liebte, so zerstört und aufgelöst zu sehen, waren für mich die schlimmsten Qualen, die man mir zufügen konnte.

„Alles wird gut, Jong. Ich bin da. Shhhhh...", versuchte ich ihn zu trösten, packte ein Taschentuch aus und trocknete damit seine Tränen. Als er endlich aufgehört hatte zu weinen, löste ich mich behutsam von ihm. 

„Aber Jongyul, warum weinst du denn überhaupt so doll? Du hast der Bitch doch nicht etwa geglaubt, dass ich mit ihr zusammen bin, oder?"

„Du wusstest davon?", fragte er mit immer noch brüchiger Stimme, aber immerhin konnte er überhaupt reden, ohne wieder in Heulkrämpfe zu verfallen. Mein armer Jongyul...

„Ja, ich hab es übers Handy gehört. Aber sag mir nicht, dass du ihr das geglaubt hast."
Ungläubig und mit einer hochgezogenen Augenbraue schaute ich ihn an.

„Nein, ich hab ihr das nicht geglaubt. Zumindest nicht richtig", gestand er.

„Aber warum hast du dann so bitterlich geweint?", hakte ich nach, weil ich es nicht ganz recht verstehen wollte. Bereute er etwa, mit Yunai Schluss gemacht zu haben?

„Keine Ahnung, Jae!"
Verletzt blickte er mir in die Augen.
„Ich weiß doch auch nicht, was ich fühlen soll."

„Was ich fühlen darf...", nuschelte er kaum hörbar und verkroch sich wieder in meiner Halsbeuge, damit ich ihm weiter über den Rücken streichen konnte.
„Wenn sie so für dich empfindet, warum hat sie dich dann noch nie gefragt, ob du mit ihr zusammen sein willst, Jae?"

„Oh, glaub mir Jongie", lachte ich, „das hat sie. Ich kann gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie ich schon gefragt hat, aber ich kann nicht."

„Wieso kannst du nicht?", fragte er, löste sich von mir und schaute mich fragend an. Ungünstig formuliert, Jaesung. Sehr ungünstig formuliert.

Wir schauten uns für einen kleinen Moment einfach nur unglaublich intensiv in die Augen, bis ich mich abwendete, um nicht noch eine dunklere Gesichtsfarbe anzunehmen. Mein Herz schlug so schnell, ich war mir mittlerweile sogar sicher, dass er es hören musste. Sollte ich es ihm sagen? War jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, ihm die Wahrheit zu sagen?

All die Jahre über hatte ich niemandem erzählt, dass ich Männer mochte. In Wahrheit hatte ich riesige Angst vor den Reaktionen der anderen. Gerade in Korea war es furchtbar schwierig, sich als gay zu outen. Ich hatte einfach nur furchtbare Angst. Zwar waren meine Eltern die besten Eltern dieser Erde und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir etwas antun könnten, aber ich konnte es nicht wissen. Und auch in der Schule wäre ich dann Abschaum.

Aber so, wie mir Jongyul gerade in die Augen schaute, überkam mich etwas Wunderbares. Es fühlte sich an wie ein plötzlicher Schub. Ich fühlte mich auf einmal nicht mehr schwach und versteckt, sondern mutig und voller Energie. Er gab mir das Gefühl, gemocht zu werden. Ich vertraute ihm blind und ich war mir zu einhundert Prozent sicher, dass er mich nicht dafür verurteilen würde.

Egal, wie viele Zweifel ich in der Vergangenheit gehabt hatte, auf einmal waren sie alle verflogen, sobald ich in seine freundlich dreinblickenden Augen schaute.

Ich musste es ihm sagen. Jetzt. Und nicht nur, dass ich schwul war. Er verdiente die gesamte Wahrheit. Egal, was er danach von mir halten würde, ich würde es akzeptieren und ich würde für immer froh sein, dass er mein Freund gewesen war.

„Ok, pass auf Jongyul. Ich muss dir jetzt was sagen. Du weißt doch noch, dass ich so ein Geheimnis habe, was ich dir nie verraten wollte. Ich hätte dir das schon viel früher sagen sollen. Dann wäre es vielleicht gar nicht erst so weit gekommen", begann ich und schluckte schwer.

Mein Körper zitterte. Diese gewaltige Angst ließ mich einfach nicht los, aber als er dann seine Hand auf meinen Oberschenkel legte und behutsam darüber strich, fasste ich neuen Mut.

„Jong", setzte ich noch einmal an. Drei Wörter, Jaesung. Es sind drei verdammte Wörter. Reiß dich zusammen. Ich schaute fest in seine Augen und haute es dann raus, ehe ich es mir anders überlegen konnte.

„Ich liebe Männer."

Meine Stimme bebte, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Was würde er jetzt sagen? Würde er mich jetzt hassen? Tausend Szenarien schossen mir durch den Kopf. Es waren die Bilder aus meinen schlimmsten Albträumen. Wie sie mich zusammenschlugen, weil sie mich hassten. Ganz vorne mit dabei Jongyul, die einzige Person, der ich vertraute. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen strich er mir sachte über den Rücken, ehe ich mich beruhigt hatte.

„Jaesung, es ist alles gut", schluchzte er, weil er seine Tränen ja auch gerade erst unter Kontrolle gebracht hatte. Stürmisch umarmte er mich und zeigte mir, dass er es akzeptierte. Als ich mich von ihm löste und seine Hand auf seine Brust legte, konnte ich seinen Herzschlag spüren. Gesund fühlte sich dieses Rasen bei ihm auch nicht an.

Ok, und jetzt noch den Rest der Wahrheit, Jaesung.

„Jongyul", begann ich wieder, griff nach seinen Handgelenken und hielt mich daran fest.
„Und da ist noch was."

„Ja? Das wäre?"

„Jongyul, wie soll ich es sagen...ich liebe einen ganz bestimmten Jungen. Dich."

I'm Not Your Wingman II LGBTQ+✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt