Ja Ko schaute nach dem Stand der Sonne. Sie hatte den höchsten Punkt schon überschritten und wandte sich nun wieder der Reise zu ihrem Lager hinter dem Rand der Welt zu.
Das war nicht gut, denn er war unterwegs, seit sie heute Morgen ihr Lager verlassen hatte, um die Welt mit ihrem Licht zu erhellen, und er hatte noch keine Jagdbeute gemacht.
Er seufzte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Er war allein unterwegs.
Er liebte es, allein zu jagen. Die Stille, die ihn umgab. Nur die Geräusche der großen Erdenmutter.
Das Rauschen des Windes. Das Schwirren der Käfer. Vogelsang. Das Huschen einer Maus.
Kein Geplapper der Frauen. Keine greinenden Kinder. Kein Geknurre der älteren Männer, der tapferen Jäger, die ihn für einen jungen, unreifen Burschen hielten.
Nun gut, nach den Traditionen des Stammes war er das auch, denn er hatte an noch keiner Großwildjagd teilgenommen.
Einmal, da war er noch Kind gewesen, hatte der Stamm ein Mammut erlegt. Aber da war er erst zum Schauplatz der Jagd gekommen, als alles schon vorüber war: er hatte wie die anderen Kinder den Frauen geholfen, das Tier zu zerlegen, das Fleisch zu dörren und alles zu verarbeiten.
Und vor einigen Monden, im Frühjahr, als er das erste mal an der Hatz auf die alljährlich durch das Flusstal ziehende Herde Wildrinder hatte teilnehmen sollen, um sich dort die Zeichen seiner Männlichkeit zu verdienen, war die Herde ausgeblieben.
Niemand wusste warum, auch der Schamane nicht.
Das war schlimm, denn diese große Jagd brachte ihnen normalerweise viel Fleisch, das sie dörren konnten und das sie lange ernährte, so dass sie in aller Ruhe Vorräte für den nächsten Winter anlegen konnten. Die Winter waren hart und schneereich und es war nicht einfach, zu jagen, wenn alles unter einer dicken Schneedecke gefangen war und die Tiere sich in ihre Winterquartiere verkrochen.
Der nächste Winter würde schwer werden. Denn die Herde würde nun auch im Herbst nicht kommen, in der Zeit der bunten Blätter, wenn sie normalerweise auf dem selben Weg zurück zog, auf dem sie im Frühjahr gekommen war.
Ja Ko kauerte sich in der Nähe eines Gebüsches zu Boden.
Er hatte etwas gehört... ein leises Rascheln. Kaninchen...? Deren Spuren er verfolgt hatte?
Ja, da waren sie. Er richtete sich auf, blitzschnell, und ließ seine Steinschleuder kreisen.
Ein dumpfer Aufprall, ein Quieken.
Er huschte hinüber, wo eben das Tier gewesen war... ja, dort lag es. Er hatte es erwischt. Wunderbar.
Ja Ko grinste zufrieden.
Na gut, ein Kaninchen war nicht viel. Immerhin.
Er nestelte an seinem Fellschurz und befestigte das Tier, an den langen Ohren zusammen gebunden, mit einem Lederband daran. Das Blut des Tierchens beschmutze seinen Schenkel. Egal. Er würde das später im Bach vor der Wohnhöhle abwaschen.
Wichtig war, dass er nicht ohne Beute heimkam.
Ein Kaninchen war nicht viel, aber es würde für ihn und seine alte Mutter genügen müssen. Die Zeiten waren schwer, und der Stamm war froh über jedes Beutestück.
Ob Mar Ti auch etwas gejagd hatte?
Mar Ti war sein Freund. Sie waren etwa gleichaltrig und waren zusammen aufgewachsen. Hatten gemeinsam die ersten Schritte gemacht, die ersten Beeren gepflückt, die ersten Laute erlernt, hätten im Frühling gemeinsam die erste große Jagd und dann die Zeremonie der Mannwerdung erleben sollen.
Aber nun...
Und noch etwas hatte er mit Mar Ti zum ersten Mal erlebt.
Er hatte mit ihm die Ahnengeister geehrt.
Diese Geister wollten, dass die Menschen Lust erlebten. Und die Menschen taten, was die Geister forderten, zum Dank dafür, dass diese ihnen Kinder schenkten. Neue Mitglieder für ihren Stamm.
Normalerweise taten sich zum Ehren der Geister ein Mann und eine Frau zusammen. Aber er selber hatte es eben mit Mar Ti getan, und es war wunderbar gewesen. Niemand hatte etwas dagegen gehabt, auch wenn es vorher noch nie vorgekommen war; selbst der Schamane, der schon uralt war, beinahe dreimal so viele Sommer, wie man Finger an beiden Händen hatte, konnte sich nicht an etwas dergleichen erinnern. Aber es gab auch keine Überlieferung, die es verbot. Und da die Geister, so hieß es, die Menschen zusammenfügten, die sie gemeinsam ehren sollten, musste es schon richtig sein.
Ja Ko wurde warm, wenn er an Mar Ti dachte. Mar Ti mit diesen Augen, deren Farbe dem blanken Himmel glich. Solche Augen gab es sonst bei keinem. Weder bei ihrem Stamm, noch bei den Fremden, auf die sie vor einigen Sommern gestoßen waren. Sie waren wirklich ungewöhnlich.
Ob Mar Ti nun auch ein Kind gebären würde... ?
Bisher hatten das allerdings nur Frauen getan. Daher konnten sie nicht mit jagen; sie mussten sich um den Nachwuchs kümmern, die Höhle säubern und Pflanzen Beeren, Nüsse und Wurzeln sammeln.
Aber Mar Ti war ein Jäger wie er. Oder sollte es werden, wenn hoffentlich im nächsten Frühjahr die Herde wieder durch das Tal zog.
Nun, wie auch immer. Er streckte sich. Er würde nun nach Hause eilen und das Kaninchen der alten Mutter geben.
Die würde es über dem Feuer braten.
Und er würde sie bitten, das Fell zu gerben und zu richten; nur sie konnte das so, dass es so weich wurde wie das Haar eines Babys. Und dann würde er zu Mar Ti gehen, würde es ihm schenken und ihn bitten, das Feuer und das Lager mit ihm zu teilen. Für immer.
Ja Ko grinste zufrieden.
Ein Kaninchen war nicht viel. Aber wenn er Glück hatte und Mar Ti ja sagte, konnte dieses kleine unscheinbare Viech, das nicht viel mehr als einen Happen zwischen den Zähnen ergab, für ihn alles bedeuten.
Er lächelte die Sonne und den blauen Himmel an, bat die Ahnengeister um Beistand und machte sich auf den Weg zur Höhle.
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Berliner Sammlung
FanfictionEine kleine Sammlung von Drabbles, Oneshots und ähnlichem über die Berliner Youtuber. Alles, was mir dazu so in den Kopf kommt.