1 - Sommer

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„Aufstehen", flüsterte Mahaut ins Ohr ihrer schlafenden Tochter.

Es war früh. Selbst die Sonne zeigte sich noch nicht am Horizont. Aber es war Zeit um aufzustehen und die Arbeit zu beginnen. Aveline drehte sich in ihrem harten Bett um und gähnte ihre Mutter an.

„Nur noch ein bisschen", murmelte sie schlaftrunken.

„Nein, mein Liebes", sagte Mahaut und begann, an der Feuerstelle kleine Zweige zu einem Haufen zu stapeln. „Dein Vater und dein Bruder sind schon auf und holen die Netze."

Mit müden Protesten richtete sich Aveline auf und rieb sich die Augen.

„Hast du diese Nacht wieder geträumt?", fragte Mahaut und machte das Feuer an. „Du warst unruhig."

Aveline nickte. „Ja."

„Das Gleiche wie immer?"

„Mhm."

„Ach, mein Liebes", seufzte Mahaut, „du solltest heute Melisse pflücken und dir einen Trunk zum Einschlafen machen."

„Ja, Mutter. Mache ich, sobald wir mit der leidigen Knochenarbeit fertig sind."

„Aveline!" Mahaut blickte ihre Tochter ermahnend an.

„Was? Stimmt doch ...", grummelte diese.

„Geh und wasch dir dein Gesicht", gebot Mahaut und stellte den Kupferkessel über die Flammen. Sie rieb sich das schmerzende Kreuz.

Aveline hievte sich aus dem Bett. Sie hatte diese Nacht wieder besonders schlecht geschlafen. Ein Albtraum jagte sie seit einiger Zeit. 

Nacht für Nacht wurde sie von denselben Bildern geplagt. Eine schreckliche Kreatur mit verzerrten Augen, aufgerissenem Mund und gewölbter, langer Zunge grinste ihr ins Gesicht. Dieses Bild sah sie immer nur flüchtig. Zu kurz, als dass sie sich die Fratze dieses Wesens einprägen konnte. Danach folgte nur Dunkelheit und das Geräusch von Regen und glucksendem Wasser und ein klammes Gefühl auf der Haut. Kälte, die bis in die Knochen drang und die Zähne zum Klappern brachte. 

Das war er schon — der Traum.

„Was für ein Schwachsinn", murmelte Aveline zu sich selbst, während sie am Trog ihr Gesicht wusch und ihre Haare zusammenband.

Auf der Rückseite eines Kupferlöffels betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie sah blass aus. Ihr natürlicher Teint war schon immer etwas bleich, doch an diesem Morgen hatte ihre Haut einen kränklichen, aschfahlen Farbton angenommen. Dunkle Ringe prangten unter ihren Augen. Sie seufzte und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab.

„Wie viele Netze müssen wir heute flicken?", wollte sie wissen. 

Ihre Mutter reichte ihr eine Schale Gerstenbrei. „Das weiss ich nicht. Frag deinen Vater", erwiderte sie.

Aveline schlang die warme Grütze hinunter. Das Feuer knisterte leise. Die Flammen an der Feuerstelle schwollen an und verbreiteten allmählich eine wohlige Wärme in der Stube. Es war aber dennoch etwas frisch im Raum, so früh am Morgen. Aveline verschränkte ihre Arme vor der Brust und stand näher zum Feuer.

Sobald die Sonne herauskam, würde sie sich wieder nach der kühlen Stube sehnen. Dieser Sommer war gnadenlos heiss gewesen. Es war ein Sommer, an den man sich noch lange erinnern würde.

Wenn am Nachmittag wieder die Natur um sie herum glühte und die Luft vor Hitze nur so flimmerte, dann würde sich die ganze Familie im kühlen Inneren des alten Steinhauses verschanzen. 

Das Haus gehörte seit Generationen der Familie Baudin. Aveline war hier geboren und aufgewachsen und würde wohl auch den Rest ihres Lebens in Fécamp verbringen. Das war ihr Zuhause. 

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