9 - Sommer

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„Los, spring schon!", rief Richard hinter dem Schilf hervor.

Er hatte Aveline an den See gebracht, damit sie sich waschen konnte. Zu lange war es her gewesen, seit ihre Haut das letzte Mal Wasser berührt hatte und Richard hatte darauf bestanden, dass ein Bad im kühlen See ihre Lebensgeister wecken würde.

„Wasser spült die Dämonen weg", hatte er gesagt, als sie gemeinsam durch das Waldstück zum See gingen.

„Aber mir ist so kalt", rief sie.

Richard war hinter die hohen Schilfrohre gegangen, damit sie ihr Bad alleine nehmen konnte. Allerdings hatte sie ihn gebeten, sich nicht zu weit von ihr zu entfernen. Für den Fall, dass sie irgendwelchen Wikingern am See begegnen sollte. Doch schien an diesem Morgen keiner da zu sein. Nur der Fischreiher, der unweit von ihr am Ufer stand.

Sie war alleine.

„Jetzt geh schon hinein!" Richard wurde allmählich ungeduldig. „Oder soll ich dich schubsen?"

„Wage es nicht!", fauchte sie zurück, was ihn kichern liess.

Der See war spiegelglatt, nur Avelines Beine, die im Wasser standen, brachen kleine Wellen. Sie scheute sich vor der Kälte, aber sie wusste, dass ihr ein kurzes Bad wohltun würde.

Dann warf sie einen letzten Blick zurück. Richard war weit und breit nicht zu sehen. Sie vertraute darauf, dass er sich nicht erdreisten würde, einen Blick auf ihren nackten Körper zu erhaschen. Seufzend zog sie ihr Untergewand aus und watete ins tiefe Wasser.

Die Kälte stach auf ihrer nackten Haut, aber jäh schoss das Blut durch ihre Adern und erweckte sie zu neuem Leben. Es war wirklich erfrischend! Aveline liess sich vom See verschlingen und tauchte ab. Während unzähligen Herzschlägen blieb sie unter Wasser, die Augen geschlossen, nur das Rauschen des Sees in den Ohren.

Es war ein schönes Gefühl in der Kälte zu schweben. Schwerelos. Ihr Kopf klärte sich und die Grausamkeiten der letzten Wochen lösten sich im klaren Wasser auf.

Sie wusch sich und schrubbte ihre Arme und Beine sauber. Dann stieg sie aus dem Wasser. Richard hatte ihr am Seeufer ein frisches Untergewand und ein sandfarbenes Kleid zurechtgelegt, welches sie sich über den Kopf zog. Der Stoff fühlte sich seltsam an. Wolle, irgendwie anders verarbeitet, als sie das von zuhause gewohnt war. Ein rauer und einfacher Stoff. Den braunen Taillengurt zurrte sie sich um die Hüfte, während sie zurück zum Schilf lief, in welchem Richard irgendwo auf sie wartete.

„Na, was habe ich dir gesagt?", begrüsste er sie mit einem breiten Grinsen.

Aveline rang sich ein Lächeln ab. „Du hattest recht", gab sie zu. „Jetzt fühle ich mich besser."

„Gut." Richard nickte zufrieden. „Dann lass uns jetzt zurück gehen. Die Arbeit wartet auf uns."

Gemeinsam gingen sie durch den Wald zurück zum Hof. Von Weitem sahen sie Hjalmar auf dem Feld. Er hatte bereits damit begonnen, das Feld zu beackern und winkte Richard energisch zu sich. Dieser fluchte leise, denn er war spät dran. Er wandte sich ein letztes Mal Aveline zu.

„Ich muss aufs Feld", sagte er und blickte ihr tief in die Augen, als wolle er sehen, ob sich darin noch Angst befände. „Geh zu Salka ins Haus. Sie wird dir zeigen, womit sie Hilfe braucht." 

Aveline nickte wortlos. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Die Vorstellung, ganz alleine in diesem Raum zu stehen, ohne die beruhigende Anwesenheit ihres Leidensgenossen, war schrecklich. Richard schien ihre Unsicherheit zu spüren.

„Hab keine Angst vor ihr, hörst du?", sagte er mit sanfter Stimme. „Sie ist wirklich eine gute Frau."

Seine dunklen Augen schimmerten aufrichtig. Darin lag keine Lüge. Er sprach die Wahrheit, aber dennoch konnte das Aveline nicht beruhigen.

PlünderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt