31 - Winter

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Loki sass auf der Mauer und drehte die silberne Haarnadel in seinen Händen. Hätte er ein Mädchen, dem er an Jule ein Bündel Tannenzweige schenken könnte, würde er diese Haarnadel kunstvoll reinflechten. Sie war schön — die Nadel. Er hatte sie während den Plünderungen einer toten Frau aus den Haaren gezogen. Die Tote war auch schön gewesen, aber das spielte keine Rolle mehr. Sie war ja tot.

Die Haarnadel hatte an ihrem dickeren Ende einen kleinen Fisch, der sich wand, so als ob er aus dem Wasser gesprungen war und hilflos in der Luft zappelte. Loki betrachtete das Schmuckstück fasziniert.

„Hier", sagte er und reichte es Rurik. „Du kannst das besser gebrauchen als ich."

Die zwei lungerten draussen vor der Werkstatt von Lokis Vater Mar herum. Rurik hatte zwei Füchse geschossen, deren Fell abgezogen und das Leder gegerbt werden sollte.

„Was ist das?" Rurik nahm ihm das silberne Stück ab und untersuchte es.

„Ein Mitbringsel aus dem Frankenreich", antwortete Loki und kratzte sich den blonden Schopf. „Hab's zwischen Stühlen und Bänken irgendwo gefunden und mitgehen lassen."

Rurik schüttelte den Kopf. „Hast du das am Tag unserer Rückkehr denn nicht in die Versammlungshalle gebracht?"

Im tadelnden Ton in Ruriks Stimme schwang auch eine Portion Schalk mit. Sein bester Freund wusste schliesslich, dass Loki eine Schwäche hatte. Er klaute hier und da gerne mal Sachen. Auf Raubzügen war es eigentlich verboten, die Beute für sich zu behalten. Bei einem so kleinen Stück jedoch war das natürlich niemandem aufgefallen. Loki hatte es sich in die Hose gesteckt, dort, wo niemand nachschauen würde.

„Und was soll ich damit?", wollte Rurik wissen und drehte die Nadel zwischen seinen Fingern. „Mir das in die Haare stecken? Machst du mir etwa den Hof, oh geliebter Loki?"

Loki streckte den Rücken durch, um grösser zu wirken. „Ja, meine entzückende Rurika", erwiderte er mit gespielt tiefer Stimme, „deine flache Brust und dein dicker Hintern haben mein Herz erobert."

Sie lachten beide los und klopften sich auf die Schultern. Loki mochte diese unbeschwerten Momente mit seinem besten Freund sehr. Rurik war immer für einen Witz zu haben.

„Jetzt aber wirklich", sagte Rurik, als er sich vom Lachanfall erholt hatte. „Warum gibst du mir das? Willst du das nicht in deiner Sammlung behalten?"

Loki grinste. „Das ist für die Weiber", antwortete er und deutete mit seinem Kopf in die Richtung, in welcher die drei Frauen in der Ferne standen.

„Welche Weiber?"

Loki merkte, dass Rurik nicht in diese Richtung schauen wollte. Er musste gesehen haben, dass dort Inga mit ihren zwei schrecklich nervigen Freundinnen war.

„All die Mädels, die am Julabend Schlange stehen werden, um dir die Hose runterzuziehen."

Rurik verdrehte die Augen, als er Lokis Absicht verstand. Die Haarnadel sollte ihm als Amulett für die Tannenzweige dienen. Es war in Nordjütland gängiger Gebrauch, dass man sich am Julfest mit immergrünen Zweigen beschenkte. Und wenn man nebst den Tannen- oder Mistelzweigen noch ein zusätzliches individuelles Element hineinflocht, dann zeigte man dem Gegenüber damit, dass die persönliche Bindung einem wirklich wichtig war. Sich zu beschenken schweisste Freundschaften zusammen, verband Familien miteinander und verstärkte die Liebe zwischen Verliebten. Es war ein Zeichen der Verbundenheit.

„Und wem soll ich das bitte schenken?", stiess Rurik ratlos aus.

Loki zuckte mit den Schultern. „Inga zum Beispiel. Die Zahnlücke, die du ja scheinbar so sehr liebst."

PlünderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt