12 - Herbst

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Es regnete stark, aber das schien niemanden in Vestervig zu stören. Man kannte das Wetter hier so. 

Die Arbeiten an der nördlichen Wand des Tempels waren fast beendet. Eine Böe blies den Regen gnadenlos in die Gesichter der Sklaven, welche auf Ragnar Sigurdsons Befehl Wind und Wetter hatten trotzen müssen, um den Tempel am Ørumsee aufzurichten. 

Luca aus Fécamp war einer dieser Sklaven. Sein sehniger, starker Körper hatte ihm diese Bürde beschert. Selbst im kältesten Regen würde er nicht zusammenbrechen.

Er hob den Eichenbalken hoch und reichte ihn wortlos dem nächsten Arbeiter, welcher die Latte festnagelte. 

Luca hatte von den anderen Arbeitern gehört, dass sich nicht jede normannische Siedlung den Bau eines Götter- und Opfertempels leisten, geschweige denn dem Priester sein Gehalt für seine Prophezeiungen zahlen konnte. Der Tempel am Ørumsee war dementsprechend ein Symbol der Grosszügigkeit Ragnars. Die rechtzeitige Fertigstellung und der damit einhergehende Einzug des grossen Priesters war für den Jarl von äusserster Wichtigkeit, denn somit konnte er die Stadt am westlichen Ende Nordjütlands als bedeutsamen Wallfahrtsort etablieren. 

Für Vestervig war der Bau des Tempels ein Segen, für Luca eher ein Fluch.

„Reichst du mir noch einen Nagel?"

Luca blickte auf die leere Handfläche seines Kollegen, die ihm entgegengestreckt wurde und gab ihm drei weitere Eisennägel. Dann duckte er sich und hob einen zweiten Balken auf. Seine Muskeln ächzten. Seit mehr als drei Vollmonden waren sie mit dem Bau dieser heiligen Stätte beschäftigt. Im Sommer war die Arbeit in der sengenden Hitze eine absolute Qual gewesen, aber jetzt drang der Regen und der Wind durch die Kleider in die Knochen und liess die Zähne klappern, die Muskeln verkrampfen. Es war beissend kalt. Manche Sklaven waren bereits an Erkältungen verendet. 

Ragnar Sigurdson war berüchtigt für seine erbarmungslose Art. Er trieb seine Sklaven ohne Rücksicht auf Verluste bis zur körperlichen Erschöpfung. Wächter hatte er zur Baustelle beordert, die jeden, der es wagte vor Auszehrung zusammenzubrechen, mit Hieben wieder auf die Beine prügeln sollten. Ragnar tolerierte keine Schwäche. Die Arbeiter durften nicht ruhen, auch wenn das bedeutete, dass sie sich zu Tode schufteten. 

Luca rieb sich die schmerzende Schulter.

„Nägel sind alle", sagte er zu seinem Kameraden, der nur stumm nickte.

Da sie so nicht weiterarbeiten konnten, lief Luca um den Tempel herum, um nach weiteren Nägeln zu suchen. Er wurde nicht fündig. Es schien, als hätte der neue Bauleiter zu wenig Eisenmaterial beim Schmied bestellt. Ihnen waren alle Nägel ausgegangen.

Das war zu Beginn des Baus schon einmal passiert und hatte die rechtzeitige Fertigstellung des Tempels bedroht. Ragnar war blind vor Wut gewesen und hatte den damaligen Bauleiter vor allen Arbeitenden kurzerhand geköpft. So ein Fehler sei inakzeptabel, hatte er gebrüllt — seine Axt blutig, die Augen weit aufgerissen, wie ein Biest im Rausch. Am nächsten Tag war ein einfacher Arbeiter zum neuen Bauleiter ernannt worden. Dieser hatte nun, wie es schien, auch zu wenig Eisennägel bestellt.

Luca trat auf der Suche nach dem Bauleiter in die säulengestützte Haupthalle des Tempels. Das Dach hatten sie bereits montiert und bot genügen Schutz gegen das stürmische Wetter draussen. Der Regen prasselte durch die klaffende Öffnung in der Mitte der Decke — das Guckloch für die Götter.

Es war still im Inneren und nur das leise Trommeln der Tropfen erfüllte den Tempel. Luca blickte um sich und fand den Bauleiter in der verbotenen Kammer. Dort sass er auf dem Steinaltar, die Hände im Schoss gefaltet, in Gedanken versunken. Die Gnipahellir, wie man diese Kammer nannte, sollte dem Tempel als Aufbewahrungsort für Heiligtümer dienen, hatte man Luca erklärt. Ein sakraler Ort. Sicherlich durfte sich niemand einfach so mit seinen schmutzigen Kleidern auf den Altar setzen.

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