Schwitzend wachte Aveline auf. Ihr Herz raste in der Brust, so schnell, als wäre sie einen Berg hinaufgelaufen. Sie wischte sich den Schweiss von der Stirn und hievte sich aus dem Bett.
Was für ein schlimmer Traum!
Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder abzuwimmeln und erhob sich. Richard war nicht mehr da.
Er hatte das Arbeiterhaus bereits im Morgengrauen verlassen, um mit Hjalmar auf den Markt zu gehen. Sie wollten dort die Schafwolle an die Weberinnen verkaufen und Werkzeuge besorgen, erinnerte sich Aveline. Danach würden sie den ganzen Tag wieder auf dem Feld verbringen und Zwiebeln, Rüben und Kürbisse anbauen. Hjalmar hatte gesagt, dass sie die Gunst der Götter und des guten Wetters nutzen wollten, um möglichst viel anzubauen, bevor der regnerische Herbst einsetzte.
Aveline war froh, dass sie nicht auf dem Feld aushelfen musste. Obwohl es noch lange nicht Mittagszeit war, brütete die Hitze bereits über dem Arbeiterhäuschen und trieb sie hinaus. Dieser Sommer hatte ihnen zwar prachtvolle Tage und reiche Ernten beschert, aber die stickige Luft, machte ihr sehr zu schaffen.
Salka wollte an diesem Tag eine gute Freundin in der Stadt besuchen und so blieb Aveline nichts anderes übrig, als sich die Zeit alleine zu vertreiben. Das kam ihr ganz gut gelegen, denn somit konnte sie die Gegend auf eigene Faust erkunden und an ihren Fluchtplänen schmieden.
Sie lief über den Hofplatz in die Richtung des Waldes und blickte um sich, um sicherzustellen, dass sie nicht gesehen wurde. Salka war bestimmt noch im Wohnhaus und von Rurik gab es weit und breit keine Spur. Aveline blieb stehen und überlegte. Wenn Rurik nicht auf dem Hof oder bei seinem besten Freund Loki in der Gerberei war, dann musste er auf der Jagd sein. Dies war er in letzter Zeit oft gewesen. Aveline hatte beobachtet, wie er regelmässig mit Rehen, Hasen oder Wildschweinen auf der Schulter aus dem Dickicht gestapft kam.
Sie zögerte. Wenn er an diesem Tag auch im Wald war, dann musste sie vorsichtig sein. Er durfte auf keinen Fall Verdacht schöpfen.
In den seltenen freien Momenten, die ihr gewährt wurden, war sie immer unter den schattigen Hainen spazieren gegangen. Stets mit dem Ziel vor Augen, den Wald, den See und die umliegenden Hügel auszukundschaften, um die perfekte Fluchtroute ausfindig zu machen. Salka hatte Aveline unter der Annahme frei herumwandern lassen, dass sie Kräuter und Pilze für ihre Salben und Tees sammeln ging, die der Familie in Zeiten von Krankheit dienlich sein würden.
Das war immer ihre Ausrede gewesen und würde es auch heute sein, sollte sie irgendwo Rurik begegnen.
Entschlossen schritt sie in den Wald. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Rurik treffen würde, war sowieso klein. In letzter Zeit hatte sie kaum die Gelegenheit gehabt, an ihren Plänen zu arbeiten. Das wollte sie sich heute nicht nehmen lassen.
Sie hatte nämlich vor ein paar Tagen eine Route entdeckt, die sie durch den Wald und dann unentdeckt um den See führte.
Der einzig mögliche Fluchtweg lag — entgegen ihrer Instinkte — im Norden der Stadt: Durch den dicken Wald, um den See herum. Südlich von ihr befand die Siedlung und die stand als Fluchtroute ausser Frage. Zwischen Ästen, Sträuchern und Büschen war sie besser geschützt.
An diesem Tag wollte sie herausfinden, was sich auf der anderen Seite des Sees hinter der Waldgrenze befand. Ob sie irgendwo Unterschlupf finden könnte, wo sie sich in der Nacht verstecken könnte — es gab noch so viel, was sie in Erfahrung bringen musste.
Sie beschleunigte ihren Schritt. Glücklicherweise schmerzten ihre Rippen nicht mehr so doll, so kam sie schnell voran. Wie immer, wenn sie alleine unterwegs war, trug sie keine Schuhe.
Sie liebte es, den Boden auf ihrer Haut zu spüren. Es gab ihr Sicherheit und ein besseres Gespür für die Natur. Das hatte sie in Fécamp am Strand auch immer getan.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...