39 - Frühling

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Rurik sass am Brunnenrand und schnitzte einen Ast mit seinem Messer. Er war aus der Wohnstube verbannt worden, weil Aveline Kundschaft empfing und man sich durch seine Anwesenheit gestört gefühlt hatte. Mürrisch sass er nun da und beobachtete, wie sich die Leute vor seinem Wohnhaus scharten. Jung und Alt warteten ungeduldig, bis sie in die Wohnstube zu der berühmten Heilerin gelassen wurden.

Rurik schnaubte durch die Nase und schüttelte den Kopf. War ganz Vestervig von irgendwelchen Krankheiten heimgesucht worden? Die Jütländer waren eigentlich ein gesundes und kräftiges Volk. Warum suchten plötzlich so viele nach Heilung?

Er schnitzte weiter die Spitze seines Astes und musterte die wartende Menschenmenge. Da fielen ihm zwei bekannte Gesichter auf. Kjetill und Emmik, zwei Kriegerkollegen, die mit ihm gemeinsam im angelsächsischen Reich und im Frankenreich gekämpft hatten. Sie standen Schlange und waren miteinander in einem Gespräch vertieft. Rurik legte seinen Ast zur Seite und näherte sich den beiden.

„Was macht ihr hier?"

„Wir sind hier wegen der Heilerin", antwortete Kjetill und offenbarte ihm ein breites Grinsen.

Er trug eine blaue Tunika mit heller Hose. Seine dunkelblonden Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Der flaumige Schnauzer an seiner Oberlippe war die einzige Gesichtsbehaarung, die ihm wuchs. Er war gross und schlaksig.

„Uns wurde gesagt, sie sei Freya in Menschenform", fügte der rothaarige Emmik hinzu. „So schön wie der Vollmond in düsterer Nacht."

Er hatte zahlreiche Sommersprossen im Gesicht und war mindestens zwei Köpfe kleiner als sein langer Freund.

„Man munkelt, sie habe von Iduns Apfel gegessen und habe damit diese göttliche Schönheit erlangt", fuhr Kjetill fort.

„Andere sagen, sie sei eine Walküre Odins, die unter uns in Menschengestalt wandert, um die ehrenvollsten und tapfersten Krieger ausfindig zu machen", flüsterte ein anderer Bursche hinter ihnen, der ihrem Gespräch gefolgt war.

„Tatsächlich?", stiess Emmik aus und lachte dabei dreckig. „Ich zeige ihr meine Narben, dann wird sie schon sehen, wie tapfer und mutig ich gekämpft habe!"

Kjetill grunzte zustimmend.

„Ich habe gehört, dass sie das Ebenbild von Eir sei, die Asengöttin der Heilung", sagte eine ältere Frau, die vor den jungen Männern in der Schlange stand.

Rurik hatte die Nase voll von den Geschichten. Ihm gefiel es nicht, wie die Kerle über Aveline sprachen. 

„Schwachsinn!", zischte er. „Sie war unsere Sklavin, jetzt nicht mehr. Sie kennt sich mit Unkraut aus. Da ist nichts Göttliches daran!"

Kjetill legte den Kopf schief. „Davon wollen wir uns lieber selbst überzeugen."

„Ihr solltet nicht ihre Zeit verschwenden", knurrte Rurik und machte die Faust, was Kjetill allerdings nicht einschüchterte, sondern ihm bloss ein dümmliches Grinsen entlockte.

„Oh nein, auf keinen Fall!", erwiderte Kjetill. „An mir ist keine Zeit verschwendet."

Emmik lachte mit seinem Freund mit.

„Wovon redest du?", fragte Rurik. Seine Knöchel knacksten von der Kraft, mit welcher er seine Faust ballte.

„Ich lass meine Hose runter, dann wird sie schon sehen, dass an mir nichts verschwendet wurde", grölte Kjetill und griff sich selbst in den Schritt. „Die Götter waren grosszügig!"

Rurik knirschte mit den Zähnen. Kjetills Spott machte ihn wütend. Wütend, weil Aveline es nicht verdient hatte, dass man ihre Fähigkeiten ins Lächerliche zog. Nur er durfte das, denn eigentlich meinte er es ja nicht so. Aveline besass sonderbare Heilkräfte und die sollten die Leute hier auch schätzen lernen. 

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