19 - Herbst

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Am Tag ihrer Flucht schlief Aveline zu lange. Ihr dröhnte der Kopf von all dem Bier, das sie hatte trinken dürfen. Als sie das Arbeiterhaus verliess, schaute sie nicht zurück. Es wäre ihr schwerer gefallen, einfach zu gehen, wenn sie Richard nochmals angesehen hätte. Er schlief tief und fest in seiner Liege und schnarchte sanft. Der Alkohol zollte auch bei ihm seinen Tribut.

Aveline schlich barfuss ins Wohnhaus und schnappte sich den Pfeil und Bogen, den Rurik in seinem Zimmer gelassen hatte. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz klopfte hart in ihrem Brustkorb. Sie bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben und nichts im Wohnhaus umzustossen. Es sollte alles so aussehen, als wäre nichts geschehen - als sei sie wie vom Erdboden verschluckt worden.

Schnellen Schrittes lief sie über den Hofplatz in den Wald hinein, den Bogen um die Schultern gehängt und den Köcher in der Hand. Als Nächstes wollte sie Pilze sammeln und dann zu ihrem Versteck im Wald gelangen, wo sie in einem hohlen Baumstumpf ein Wolfsfell gelagert hatte. Das musste ihr als Schutz vor der Kälte für die Flucht reichen. Wenn jemand sie im Wald erwischen sollte, konnte sie noch immer behaupten, dass sie jagen gehen wollte.

Als sie in den düsteren Wald schritt, bemerkte sie, dass zwei Raben sie vom Dach des Arbeiterhauses beobachteten. Der eine krächzte leise, der andere flatterte nervös mit den Flügeln.

Sie fiel fast über ihre eigenen Füsse, so hastig lief sie durchs Unterholz. Auf halbem Weg zu ihrem Versteck fand sie eine lichte Stelle, auf welcher viele Pilze sprossen. Sie kniete sich nieder und begann die Pilze zu sammeln. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, so hielt sie in ihrer Bewegung inne und atmete tief durch.

„Nur ruhig", murmelte sie zu sich selbst.

Die Pilze band sie in einem Tuch zusammen. Jetzt musste sie bloss ihr Versteck erreichen und von dort aus um den See herum bis zum Ende des Waldes laufen.

Ein Glücksgefühl stieg in ihr auf. Sie lächelte.

Die Freiheit war zum Greifen nahe.

Beim hohlen Baumstumpf angekommen, setzte sie sich zur Rast hin. Sie holte den zusammengerollten Wolfspelz aus ihrem Versteck hervor und klopfte das Fell ab. Es war etwas feucht, aber das würde in der Nachmittagssonne trocknen. Sie band sich das Fell über die Schultern und stand auf.

Da bemerkte sie es - das fehlende Gewicht an ihrem Hüftgurt.

Erschrocken hielt sie die Luft an, als ihre Hände ins Leere tasteten.

Der Dolch! Sie hatte ihren Dolch vergessen.

Ihre Knie gaben nach und sie fiel auf den Waldboden. Ein Schluchzer kroch ihre Kehle hoch und schüttelte sie durch.

Sie hatte den Dolch unter ihrer Schlafliege liegen lassen. Jeden gottverdammten Tag trug sie diesen Dolch mit sich. Ausgerechnet heute nicht!

Ihre Finger gruben sich ins Laub, in die feuchte Erde.

Hätte sie doch nur kurz zurückgeschaut, als sie aus dem Arbeiterhaus gerannt war. Nur einen Blick zurück! Sie war so darauf konzentriert gewesen, Richard nicht zu wecken, dass sie keinen Gedanken an ihr wichtigstes Werkzeug - ihre einzige Waffe - mehr verschwendet hatte.

Wut auf sich selbst mischte sich mit ihrer Verzweiflung. Sie fauchte aufgebracht und rappelte sich wieder auf.

Sie wäre ohne ihren Dolch in der Wildnis aufgeschmissen. Die raue Natur Jütlands war gnadenlos, das wusste sie. So sehr sich jede Faser ihres Körpers dagegen sträubte, sie musste nochmals zurück, wenn sie ihre Flucht überleben wollte.

Ihre Füsse setzten sich unwillkürlich in Bewegung. Erst ging sie. Doch dann wurde sie immer schneller. Sie begann zu rennen. Rascher als zuvor. Ihre Lungen schmerzten vor Anstrengung, aber ihre Beine trugen sie zurück.

PlünderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt