Rurik streckte sich in seinem Bett. Eine schlaflose Nacht lag hinter ihm, in welcher er von Ingas Geständnis und Avelines enttäuschten Augen gejagt worden war. Er lag nun schon seit einer Weile wach. Der Tag war seit langem angebrochen und die Sonne musste schon steil stehen, aber er war in seinem Zimmer geblieben, um klar denken zu können.
In der Wohnstube war es ihm zu voll und betriebsam gewesen, da konnte er seine Gedanken nicht sortieren. Er hatte durch das rote Tuch hindurch Salka und Hjalmar gehört, wie sie mit den Kesseln geklappert hatten und den täglichen Arbeiten nachgegangen waren. Auch das dumpfe Geräusch von Avelines Gehstock hatte er vernommen. Jetzt war es jedoch wieder ruhig im Haus.
Er setzte sich an den Rand seines Bettes und kratzte sich am Hinterkopf. Dieses Missgeschick mit Inga raubte ihm die letzten Nerven. Eines war für ihn klar: Er wollte dieses Kind wirklich nicht, beim besten Willen nicht. Ihm war aber auch bewusst geworden, dass es falsch von ihm gewesen war, Aveline damit zu belasten. Sie hatte nichts damit zu tun und sie hatte ihn berechtigterweise in die Schranken gewiesen. Es lag allein an ihm, die Sache mit Inga zu bereinigen.
Als sie ihm am Vorabend von der Schwangerschaft erzählt hatte, war er nicht darauf gefasst gewesen. Es hatte ihn dermassen aus der Bahn geworfen, dass er kaum einen klaren Gedanken hatte formen können. Er hatte nicht gewusst, wie er auf diese Neuigkeiten reagieren sollte und war mit den Worten 'Ich werde es mir überlegen' davongelaufen.
Das war ein grosser Fehler, denn damit hatte er eines getan: Inga Hoffnung gegeben. Diese musste er jetzt wieder im Keim ersticken, denn er war noch lange nicht für diesen Abschnitt in seinem Leben bereit. Er war zu jung und Inga war nicht die Frau, die er wollte.
Ganz im Gegensatz zu Aveline. Sie wollte er und er befürchtete, ihre Gunst mit diesem Unglück verloren zu haben.
Er musste es gerade rücken und er wollte das erledigen, noch bevor er auf Plünderung ging. Es wäre nämlich fatal, wenn ihn solche Weibergeschichten bis aufs Schlachtfeld verfolgen würden. Das konnte und wollte er sich nicht leisten.
Er zog sich eine grüne Tunika über den Kopf und band sich die Haare nach hinten. Als er aus seinem Zimmer trat, fand er eine dunkle Wohnstube vor. Er war froh, dass sich keine fremden Dorfbewohner in seinem Haus tummelten. Avelines Heilkräutergeschäft war heute geschlossen, denn sie wollte sich einen Ruhetag gönnen, erinnerte er sich.
Hungrig suchte er in der Küchennische nach etwas Essbarem, sein Magen grummelte schon laut. Da klopfte es plötzlich an der Eingangstüre. Rurik packte einen Apfel und öffnete die Holztür. Loki stand grinsend und mit verbeultem Gesicht vor ihm.
„Rurik!", rief dieser und umarmte seinen Freund.
„Loki. Was machst du hier?"
„Ich hab eine kleine Überraschung für dich!", jauchzte er und rieb sich die Hände.
„Und das–", sagte Rurik und zeigte mit seinem Finger auf Lokis verprügeltes Gesicht, „willst du mir nicht erklären?"
Loki winkte mit der Hand ab und schnaubte. „Nur mein alter Herr, der seinen Frust an meinem Gesicht auslassen musste", sagte er.
Rurik musterte seinen Freund und biss in den Apfel. Ein Auge war stark angeschwollen, sodass die Lider dick hervorstachen. So aufgedunsen, wie die waren, konnte er aus dem Auge nichts mehr sehen. Auch die Lippen waren lädiert, an der Nase klebten Blutkrusten und dunkelviolette und grüne Flecken erstreckten sich übers halbe Gesicht.
„So wie du aussiehst, hat wohl dein alter Herr selbst eine Tracht Prügel verdient", kam er kauend zum Schluss.
„Ach was!", erwiderte Loki. „Sieht schlimmer aus, als es ist. Jetzt zurück zur Überraschung. Komm! Wir gehen zur Koppel des Pferdemeisters, sie veranstalten heute einen Pferdekampf." Er zog Rurik am Ärmel zu seinem Pferd.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...