Seit dem schrecklichen Vorfall vor drei Tagen hatten die Gefangenen keinen Bissen Essen bekommen. Der Wikingerknabe Erik Ivarson war tot. Er hatte den Sturz ins Meer nicht überlebt.
Die Besatzung des Schiffes beklagte den Tod des Jungen sehr. Sein Körper war auf eine Bahre gelegt und mit einer Decke zugedeckt worden. Damit sich sein Leichnam aufgrund des schwankenden Rumpfes nicht verschieben konnte, war die Bahre zwischen zwei grossen Kisten fixiert worden. Ein sicherer Ort, bis sie wieder Land unter ihren Füssen hatten und ihn richtig bestatten konnten.
Der Franke, welcher Erik ins Wasser geworfen hatte, lag wie ein Bündel Elend in seinem eigenen Blut und seinen Exkrementen. Man hatte ihn nicht mehr aufs Klosett gelassen. Er war von den anderen Gefangenen getrennt und an einen separaten Balken gebunden worden. Der Gestank, der von seinem Körper ausging, war bestialisch, doch man wollte ihn in seinem eigenen Dreck verrotten lassen.
Für das, was er getan hatte.
Den restlichen Gefangenen wurde der Gang zum Eimer zwar noch erlaubt, allerdings nur in Begleitung eines klotzigen und starken Mannes. Ansonsten wurden keine Gespräche zwischen den Sklaven mehr toleriert.
Rurik behielt die Franken stets im Auge. Er wollte seinen Blick einfach nicht von ihnen abwenden. Seit ein paar Tagen war ihm aufgefallen, dass die junge Frau, die er auf seinen Schultern an Bord gebracht hatte, nur noch schwächlich in ihrem Seil hing. Sie wirkte benebelt und kraftlos.
Vielleicht lag es daran, dass sie seit vier Tagen keine Nahrung zu sich genommen hatte. Der Schiffsführer hatte nämlich entschieden, alle Gefangenen für das Verhalten dieses dicken Mannes zu bestrafen. Das war nun mal seine Methode, um sie zu brechen. Die Wasserrationen reichten kaum und der Hunger zehrte merklich an den Kräften der Franken.
Rurik selbst war kein Freund von Quälerei und so beschloss er, zum Schiffsführer zu gehen, um ihn um Erlaubnis zu bitten, den Gefangenen die Nahrungsaufnahme wieder zu gewähren.
„Knut. Darf ich dich sprechen?", fragte Rurik, als er sich dem Heck näherte.
„Natürlich. Komm näher, mein Freund!", rief ihm Knut zu. Er sass am Deck auf einer Kiste und zwirbelte seinen langen schwarzen Bart. „Was gibt's?" Er breitete seine Arme aus. „Brauchst du Arbeit? Hier auf diesem Schiff gibt es wirklich genug zu tun!"
Rurik schüttelte den Kopf. „Nein", antwortete er. „Ich bin hier, weil ich dich fragen wollte, ob wir die Gefangenen wieder füttern können."
Knut blickte ihn verwundert an. Diese Frage hatte er wohl nicht erwartet. Er verschränkte seine Arme vor sich. „Und warum in Odins Namen sollte ich das erlauben?"
„Hör zu", meinte Rurik und lehnte sich etwas vor. „Die anderen Sklaven waren doch gar nicht in das Gefecht mit Erik involviert. Ich denke, es ist an der Zeit, dass sie etwas Essen erhalten. Sie sehen schwach aus und wir wollen doch nicht, dass wir sie umsonst mitgenommen haben. Zuhause brauchen wir sie gestärkt und bereit, um die Arbeit auf den Feldern zu verrichten. Ein schwacher Sklave ist nutzlos. Was wird Jarl Ragnar sagen, wenn wir mit entkräfteten, halbtoten Franken antraben? Der wird uns doch nach Hel jagen."
Er hatte seine Worte gut gewählt, denn er wusste, wie er argumentieren musste, um von Knut das zu bekommen, was er wollte. Der Schiffsführer war leicht zu durchschauen. Ihm war die Ehre sehr wichtig und er hielt viel von seinem Jarl. Es wäre eine Schande, wenn Ragnar schlecht von Knut und seiner Mannschaft dachte.
Knut überlegte einen Moment. „Ja, du hast recht", meinte er dann. „Bevor wir in Vestervig ankommen, sollten wir schon dafür sorgen, dass diese Kreaturen halbwegs lebendig aussehen. Njal hat eine Fischsuppe zubereitet. Gib denen was davon — aber nur die Reste mit den Fischgräten!"
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...