Drei Trommelschläge ertönten und wummerten durch die ganze Halle. Ragnar erhob sich von seinem Thron und hielt die Hände in die Luft.
„Geschätzte Bewohner Vestervigs, Brüder und Schwestern!", rief er. „Es ist an der Zeit, unsere Walküren in die Sippe willkommen zu heissen. Steht auf und begrüsst die Anhängerinnen Freyas!"
Die Menge klatschte und jubelte. Das war der Moment, in welchem sich die Mädchen ihren Weg nach vorne zu Ragnars Thron bahnten. Sie waren alle weitaus jünger als Aveline und stammten aus Vestervig. Alles echte Normanninnen, ausser sie. Aveline näherte sich dem hölzernen Sitz mit klopfendem Herzen. Links und rechts hörte sie die Leute tuscheln, aber das war ihr jetzt einerlei. Ragnar hatte ihr seinen Segen gegeben. Nichts stand ihrer Freiheit mehr im Wege. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die man ihr schenkte. Männer und Frauen drehten sich nach ihr um und blickten ihr ungläubig nach - überwältigt von ihrer Schönheit und überrascht von der Neuartigkeit. Eine Sklavin, die zur Normannin erhoben wurde.
Eine Sensation.
Die jungen Frauen standen in einer Reihe vor dem Jarl. Dieser beäugte jede Einzelne eingehend, ehe er sich an die Zuschauer wandte.
„Die Winterstarre hat alles Leben zur Langsamkeit gezwungen", sprach er. „Die Todesahnung hat uns gestreift. Aber man spürt es in der Luft, es dringt schon neues Leben aus der Tiefe, verborgen reift der Frühling heran. Ein langes Jahr haben wir hinter uns, ein neues Jahr steht an. Ein Jahr, in welchem wir die Welt erobern möchten und neue Bündnisse schliessen wollen. Es ist heute in der langen Nacht an der Zeit, die jungen Frauen unserer Sippe in die ewige Gemeinschaft einzuweihen! Ganz besonders freut es mich, dass wir heute zum ersten Mal in der Geschichte Nordjütlands eine Fremde in unsere Kreise aufnehmen."
Ein Raunen ging durch die Menge und Aveline spürte, wie sich alle Blicke in der Halle auf ihren Rücken bündelten.
„Wer mit Loyalität, Wille und Mut beweist, dass sie unseresgleichen würdig ist, die hat es verdient, in meine Sippe aufgenommen zu werden", fuhr Ragnar fort. „Wer dem widersprechen möchte, soll jetzt die Hand heben oder für immer schweigen."
Er verstummte und liess seinen Blick über die Zuhörer gleiten, gab ihnen Zeit und die Möglichkeit, sich gegen seinen Beschluss zu stellen. Aveline hielt den Atem an und versuchte, möglichst selbstbewusst in die Gesichter zu schauen, welche sie argwöhnisch musterten. Es war keine Handbewegung im Raum zu vernehmen. Ein Schmunzeln zog sich über Ragnars Lippen.
„So sei es also", raunte er und lockte die Mädchen mit einer Hand zu sich. „Nun kommt näher, meine schönen und mutigen Kinder. Empfangt den Ring unseres Bündnisses. Den Ring, der für immer und ewig eure Verbundenheit zur Sippe herstellt. Den Ring, der euch diese Ehre gebührt!"
Das braunhaarige Mädchen, welches vor Aveline stand, trat als erstes auf den Jarl zu und liess Ragnar den Ring um ihren Oberarm legen. Er beugte sich zu ihr runter und hauchte ihr etwas ins Ohr. Dann war bereits Aveline an der Reihe. Ihre Knie wackelten, als sie näher kam. Sie blickte ihm in seine glänzenden Augen, was er bloss mit einem zufriedenen Lächeln erwiderte. Seine Finger wickelten sich um ihren Oberarm, als er ihr den Ring anlegte.
„Trag ihn mit Stolz und schenke ihn nur dem ehrwürdigsten Krieger!", flüsterte er in ihr Ohr. Sein Atem prallte an ihre Ohrmuschel und jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wich rückwärts zurück und reihte sich wieder ein.
Als allen Mädchen die Ringe angelegt worden waren, erklangen abermals drei kräftige Trommelschläge. Es war, als hätte die Meute bloss darauf gewartet, denn jäh brach ein tosender Applaus aus. Die Leute sprangen auf, sangen und klatschten und umarmten sich.
Aveline spürte, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste. Niemand hatte ein Wort gegen Ragnar eingelegt. Sie war kommentarlos von der Gemeinschaft aufgenommen worden. Während um sie herum ein Chaos aus Freude und Jubel herrschte, strahlte sie über ihr ganzes Gesicht. Sie war glücklich.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...