„... und nebst dem Harald-Clan aus Südjütland, wollen wir auch mit Gustav dem Blauen aus Schweden neue Handelsverträge eingehen", verkündete Ragnar seiner Gefolgschaft.
Die Sippe hatte sich unter einer grossen Linde etwas ausserhalb von Thisted versammelt. Der Baum thronte auf einem Hügel, an dessen Fuss die Männer ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ein kalter Wind wehte und liess die Zeltplanen flattern.
Unter der Linde stand Ragnar und adressierte seine Sippschaft, welche aus allen Richtungen seines Herrschaftsgebietes angereist waren. Sogar Gäste aus anderen Regionen Jütlands waren gekommen, um sich seine Reden anzuhören.
„Ich traue diesen Schweden nicht! Das sind hinterhältige Kerle!", rief Björn Graubart, ein kräftiger Stammesführer aus dem nördlichen Skagen.
Ragnar nickte und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.
„Ja, genau!", pflichtete Alf, ein magerer Stammesführer aus Fynen, dem Nordjütländer bei. „Ich habe gehört, die haben im norwegischen Territorium ein Massaker angerichtet. Ganze Sippen ausgelöscht, die Frauen vergewaltigt, die Kinder getötet. Das sind keine echten Normannen!"
„Mit solchen Monstern verhandeln wir nicht", knurrte Björn Graubart. „Da machen wir kurzen Prozess!"
Rurik, Loki, Hjalmar und Audgisil standen etwas abseits vom Geschehen und beobachteten die Diskussionen. Der Thing hatte vor einer Weile mit einer grossen Ansprache von Ragnar begonnen, in welcher er versprochen hatte, dass der Sigurdson-Clan in Zukunft noch grössere Berühmtheit erlangen würde.
Wie es am Thing üblich war, wurde erst einmal getrunken und das in Unmengen. Nur eine gelockerte Zunge spreche frei, so hiess es.
Am ersten Tag sollten die hitzigsten Debatten und Diskussionen im Trunk ausgetragen werden. Am zweiten Tag, wenn alle wieder nüchtern sein würden und eine Nacht geschlafen hatten, konnten die grossen Entscheidungen getroffen werden.
„Ich bin einverstanden, dass Gustavs Methode nicht unbedingt unseren Umgangsformen entspricht", entgegnete Ragnar, allerdings wurde er von einem jungen Mann aus der Menge unterbrochen.
„Nicht unseren Umgangsformen? Der Mann ist verrückt! Wollt ihr wirklich Handelsbeziehungen mit einem Wahnsinnigen eingehen?"
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge. Ragnar hob die Hand und bat die Männer, sich wieder zu beruhigen.
„Seine Art ist sehr ungewöhnlich, da stimme ich euch zu", sagte er. „Jedoch, meine guten Männer, hört her, was ich euch zu sagen habe: Gustav der Blaue mag zwar nicht im Besitz seines Verstandes sein, jedoch besitzt er grosse, fruchtbare Ländereien im Nordwesten vom Schwedenland. Ländereien von Freyr gesegnet!"
Das Argument schien einige Männer in den vorderen Reihen überzeugt zu haben, andere schüttelten noch immer skeptisch ihre Köpfe.
Hjalmar stand mit verschränkten Armen da und verfolgte gespannt die Diskussionen. Loki hingegen langweilte sich zu Tode und trank mit Audgisil um die Wette. Rurik verharrte neben Hjalmar, die Hände in die Hüfte gestemmt.
Er konnte sich nur mit halbem Ohr auf die Debatten konzentrieren, denn in seinen Gedanken hing er noch immer Aveline nach. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend war seit der Abreise am frühen Morgen kaum abgeflaut. Als hätte er eine Vorahnung. Irgendetwas musste sie im Schilde führen, das hatte er ihren Augen deutlich angesehen. Warum sonst hätte sie ihn so triumphierend angegrinst?
„Freches kleines Biest", murmelte er zu sich selbst.
Es störte ihn, dass er ihre Widerspenstigkeit so persönlich nahm. Es hätte ihm einerlei sein können, aber irgendetwas wurmte ihn an ihrem Verhalten. Weil sie ihm ohne Furcht gekontert hatte? Weil sie ihm wie seinesgleichen begegnet war und ihm die Stirn geboten hatte? Er wusste es nicht.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...