26 - Winter

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Ragnar beehrte die Feiernden lange mit seiner Anwesenheit. Er hörte den Geschichten Audgisils zu, beglückwünschte die frisch gebackenen Eltern, versprach für den kleinen Sveín um die Gunst der Götter zu bitten, liess sich mehrmals den Becher mit Bier füllen und hörte sich die Sorgen der Gäste über den eingebrochenen Winter an. Während des ganzen Abends umspielte ein amüsiertes Lächeln seine Lippen. Er war gut darin, seiner Gefolgschaft das Gefühl zu vermitteln, sie seien ihm wichtig und ihre Anliegen lägen ihm am Herzen.

Salka betrachtete den Jarl, wie er in ihrer Stube sass und mit den Perlen in seinem Bart spielte. Ihm gefiel die Wolfsgeschichte — die Audgisil für den Jarl natürlich gerne wiederholte — genau so gut wie den Gästen. Selbst die Tatsache, dass Aveline über sonderbare Heilkräfte verfügte, nahm er mit einem zufriedenen Brummen zur Kenntnis.

Da kam Salka eine Idee. 

Eine Idee, die sie unbedingt mit Ragnar besprechen wollte, am besten sofort, noch am selben Abend. Allerdings kannte sie Ragnar gut genug. Der Jarl mochte es nicht, mit heiklen Themen vor versammeltem Publikum überrumpelt und zu einer Entscheidung gedrängt zu werden. Es war besser, ihn alleine abzufangen. Sie beschloss, ihn ein Stück weit zurück in die Stadt zu begleiten, sobald er sich vom Fest verabschieden würde.

Also wartete sie geduldig.

Ragnar nahm sich Zeit und blieb so lange, bis die letzten Gäste die Feier verlassen hatten. Als er über den Hofplatz zurück in Richtung Stadt schlenderte, hielt ihn Salka auf. Er runzelte die Stirn, als sie zu ihm aufschloss. Sie blieben auf dem leeren Hofplatz stehen, nur der Mond war ihr Begleiter.

Salka rieb sich die Hände und wählte ihre Worte weise, während sie ihm ihr Anliegen erläuterte. Er hörte ihr aufmerksam zu, seine blaugrünen Augen fest auf ihre gerichtet. Als sie beim schwierigsten Teil ihrer Idee ankam, schwieg er für einen Moment und Salkas Herz schlug hart in ihrer Brust. Doch dann erhellte sich sein strenger Gesichtsausdruck und er liess ein bauchiges Lachen hören. Dann ein Nicken. Salka konnte ihr Glück kaum fassen und nahm seine Hände in ihre und küsste sie.

Er verabschiedete sich, noch immer lachend, und machte sich auf den Rückweg. Schnellen Schrittes kehrte Salka zurück in ihr Haus. Es war zu kalt, um lange draussen zu verweilen. 

„Worum ging's?", fragte Hjalmar. Er stand an der Türschwelle und musste sie beobachtet haben.

„Das wirst du gleich erfahren, mein Liebling", antwortete sie und trat in die Wärme. Sie wollte die Familie versammelt haben, denn sie hatte etwas zu verkünden.

Rurik sass auf der Bank, die Beine vor ihm ausgestreckt. Aveline war in ihrem Schlafzimmer neben dem kleinen Sveín bereits eingeschlafen. Sie sollte nicht geweckt werden. Salka wollte diese Sache zuerst ihrer Familie offenbaren, bevor irgendjemand anderes davon erfahren würde. Sie bat die zwei Männer, sich ans Feuer zu setzen. Sie selbst blieb stehen und rieb sich aufgeregt die Hände. Sie war nervös — fast ein bisschen aufgeregter, als davor bei Ragnar. Hjalmar blickte seine Frau erwartungsvoll an, während Rurik neben ihm einen grossen Schluck Bier trank.

Sie holte tief Luft.

„Ich habe mich dazu entschieden, Aveline die Freiheit zu schenken", sagte sie.

Bei den Worten verschluckte sich Rurik an seinem Getränk und begann heftig zu husten. Hjalmar hob die Augenbrauen weit in die Höhe. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Ruriks Kopf lief rot an, er keuchte. Hjalmar schlug ihm zweimal kräftig auf den Rücken, was aber nicht viel zu helfen schien.

„Ich habe mir nach Sveíns Geburt lange darüber Gedanken gemacht", fuhr Salka fort. „Ich konnte kaum schlafen. So viele Sachen sind mir durch den Kopf gegangen."

PlünderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt