Es war soweit. Nach eisigen Nächten und wolkenbehangenen, grauen Wintertagen stand nun endlich das grosse Julfest an.
Mit der Zusammenkunft sollte die Wiedergeburt der Sonne und das damit einhergehende Erwachen der Natur gefeiert werden. Jule war Sonnen-, Fruchtbarkeits- und Ahnenfest zugleich und darum besonders wichtig für die Normannen. Es war die Nacht aller Nächte — die längste Nacht, wie sie auch von einheimischen Zungen genannt wurde. Bis in die frühen Morgenstunden würde wild gefeiert werden.
Es war der Abend, an dem man sich vom alten Jahr verabschiedete und ein neues, aussichtsreiches Jahr empfing.
Aveline sass geduldig auf dem Hocker in der Wohnstube, während Salka ihre Haare in ein kunstvolles Geflecht verwandelte. Seit sie in Vestervig angekommen war, hatte sie ihre Haarpracht immer offen oder nach hinten zusammengebunden getragen. So ein Zopf, der ihr geflochten wurde, hatte ihren Schopf noch nie geziert.
Salka betrachtete ihr Kunstwerk mit einem zufriedenen Lächeln und machte sich daran, Avelines blasses Gesicht mit Kohle zu schminken.
„Muss das sein?", meckerte Aveline.
Sie war sich nicht gewohnt, dass man ihr Farbe in die Augen schmierte und musste ständig blinzeln. Schminke im Gesicht war ein neues Gefühl. Die Farbe strichen sich im Frankenreich eigentlich nur Prostituierte in die müden Gesichtszüge, um ihr Elend zu verstecken. In Vestervig war das natürlich nicht so. Sowohl Männer als auch Frauen trugen ab und an Farbe im Gesicht, für rituelle Zeremonien, Hochzeiten, Feste oder auch einfach nur, um gut auszusehen.
„Hör auf zu zucken! Ich muss hier eine gerade Linie hinbekommen", mäkelte Salka. Hoch konzentriert malte sie einen Kohlstrich um Avelines Augen. „Das betont deine atemberaubende Augenfarbe, mein Liebes. Jetzt sind sie dunkel umrandet. Einfach herrlich siehst du aus."
„Kann ich mal sehen?", bat Aveline und hielt sich eine Silberplatte vors Gesicht. Wahrlich. Ihre Augen schienen wie zwei goldene Sonnen hervor, ihr Antlitz wurde von ihren sanften, rostbraunen Locken umrandet. Ihr ganzes Gesicht, ihre Ausstrahlung wirkte sinnlicher und das nur wegen zwei dunklen Lidstrichen.
„Gefällt es dir?", wollte Salka wissen.
Aveline nickte. „Ja, nicht schlecht."
Ihr Spiegelbild gefiel ihr tatsächlich. Lange war es her, seit sie das letzte Mal das von sich selbst gedacht hatte. Lange war es überhaupt her gewesen, seit sie sich selbst in einem Spiegelbild so richtig betrachtet hatte. Was sie sah, gefiel ihr — sehr sogar. Am Tag ihrer Freiheit, da konnte sie ruhig so bezaubernd aussehen. Der Tag ihrer eigenen Wiedergeburt. Aveline würde in wenigen Stunden eine freie Frau sein. Der Gedanke zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Sie grinste ihr Spiegelbild an.
„Du darfst weitermachen."
Salkas glockenhelles Lachen hallte durch die Wohnstube. „Oh, da bin ich aber froh!", sagte sie und steckte Aveline die Ohrringe an.
Vor einer Woche waren Aveline die Ohrlöcher gestochen worden. Bis zu diesem Tag hatte sie noch nie Ohrringe getragen. Es hatte höllisch geschmerzt, als die kleine heisse Nadel ihr durch die Ohrläppchen gestossen wurde. Rurik hatte nur gelacht, woraufhin ihn Hjalmar aufgefordert hatte, sich selbst ein Loch stechen zu lassen. Schlussendlich hatte Rurik aber doch mehr Respekt vor dieser kleinen Nadel gehabt und die Herausforderung Hjalmars dankend abgelehnt.
Die zarten Löcher waren mit einem geschliffenen Holzsplitter offen gehalten geworden, damit sie nicht wieder verwuchsen. Salka entfernte die Platzhalter und setzte die Ohrringe ein, die sie für Aveline ausgewählt hatte.
Die kupfernen Ohrringe wiesen filigran geschwungene Linien auf, die sich kunstvoll ineinander wanden. In der Mitte sass ein winziger Vogel, die Flügel geöffnet, zum Abheben bereit. Ein Vogel, der seiner Freiheit entgegensah. Das hatte Aveline gedacht, als sie die Ohrringe das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte die Schmuckstücke sofort gemocht und sich mit einer dicken Umarmung bei Salka bedankt. Die Ohrringe hingen nun sanft von ihren Ohrläppchen und streichelten ihren Hals.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...