15 - Herbst

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Aveline strauchelte hinter Hjalmar her. Er lief mit hastigen Schritten vor ihr und holte seine Frau auf, die ebenfalls den Heimweg eingeschlagen hatte. Sie wagte es nicht, zurückzublicken, aber sie spürte Ingas Augen auf ihrem Rücken — wie ein Stechen auf ihrer Haut.

„Du kannst hier nicht frei umherlaufen. Das hast du gemerkt, was?", knurrte Hjalmar, als sie den Waldrand erreichten und sich der Bauernhof vor ihnen erhob.

Aveline blieb stumm und ballte die Fäuste, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Herz pochte noch immer aufgewühlt und voller Furcht unter ihren Rippen. Das hätte so schlimm für sie enden können — so schnell. 

„Vergiss nicht, was du bist", schärfte er ihr weiter ein, woraufhin Salka ihm von der Seite einen ernsten Blick zuwarf, den Aveline nicht deuten konnte.

Sie senkte den Kopf. Hjalmar hatte recht: Sie war eine Unfreie, eine Rechtlose. Eine Sklavin. Das hier war nicht ihr Zuhause. Hier war sie nur erwünscht, wenn sie folgsam ihre Arbeit verrichtete und den Wikingern die Füsse küsste.

„Verzeih mir, dass ich einen solchen Aufstand ausgelöst habe", murmelte sie. „Das war nicht meine Absicht, mein Herr."

„Nenn mich nicht so", fuhr Hjalmar sie abermals an.

„V-Verzeihung."

Salka schob ihren Mann zur Seite und legte einen Arm um Avelines Schultern. Sie zog sie näher zu sich heran. 

„Es tut mir leid, dass du diese Seite von ... von uns kennenlernen musstest", sagte sie. Es klang aufrichtig. Ihr sanfter Blick bestätigte dies. Dann deutete Salka auf das Wohngebäude vor ihnen. „Auf dem Hof und im Wald bis zum See kannst du dich sorglos bewegen", fügte sie an.

Sie schenkte Aveline ein aufmunterndes Lächeln, das ihr wahrscheinlich hätte Trost spenden sollen. Salka wusste, wie gerne Aveline im Wald unterwegs war, um ihre Kräuter zu sammeln. Wie sehr sie die Bewegungsfreiheit genoss. Hjalmar allerdings schüttelte den Kopf.

„Ab sofort gehst du nicht mehr ohne Begleitung in den Wald", beschloss er. Salka blickte ihren Mann durchdringend an, doch er liess sich nicht mehr vom Gegenteil überzeugen. „Das ist zu gefährlich", erklärte er und wandte sich seiner Gehilfin zu. „Wir können es uns nicht leisten, dich wegen einer Dummheit zu verlieren. Nicht bevor das Kind da ist."

Sie blieben vor dem grossen Wohnhaus stehen. Salkas Hand wanderte auf ihren Bauch und der etwas verunsicherte Biss auf ihre Unterlippe verriet, dass sie ihm wohl doch zustimmte.

Aveline faltete die Hände vor ihrer Brust und warf Hjalmar einen flehenden Blick zu. „Aber mein Herr— ich meine Hjalmar, ich würde es nicht wagen zu fliehen!" Bisher zumindest hatte sie es nicht gewagt und das würde eine ganze Weile noch so bleiben. Sie wollte ihre Bewegungsfreiheit nicht verlieren. Das konnte sie nicht! „Ich schwöre es bei Odin!", warf sie hinterher, in der Hoffnung, das würde den Normannen von ihrer Unschuld überzeugen.

Hjalmars strenge Gesichtszüge glätteten sich augenblicklich. Odin war ein gutes Stichwort bei dem Wikinger, das wusste Aveline. Er schmunzelte und legte seine riesige Hand auf ihre Schulter. Seine Finger waren kräftig und schwielig.

„Du musst nicht auf unsere Götter schwören", sagte er und klopfte ihr sanft auf die Schulter. Ein Lächeln machte sich hinter seinem buschigen, braunen Bart erkenntlich. „Ich vertraue deinen Worten."

Aveline führte ihre gefalteten Hände an die Lippen und warf ihm einen letzten, inständigen Blick zu. Doch Hjalmar blieb hart.

„Du gehst nicht mehr alleine in den Wald. Wenn du etwas brauchst, nimmst du entweder Rurik oder Richard mit dir mit."

PlünderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt