Die kleine Küchenschabe kroch blitzschnell über die Bank, blieb an der Kante ruckartig stehen und zuckte mit ihren Antennen. Im nächsten Augenblick war sie unter die Essbank gekrochen und aus Avelines Blickfeld verschwunden.
Inga sass vor ihr und blinzelte sie fragend an. Sie trug ein graues Gewand und hatte ihre Kapuze weit über den Kopf gezogen. Sie wollte nicht gesehen werden.
„Bist du dir ganz sicher?"
Aveline war in Gedanken versunken. Die Küchenschabe hatte den Boden erreicht und krabbelte über die Erde zur Feuerstelle. Sie folgte dem Insekt mit ihren Augen, dann nickte sie langsam.
„Man kann es nie mit Gewissheit sagen, aber so, wie du mir das beschreibst, bin ich mir ganz sicher", antwortete sie.
„Und es kann wirklich nicht vom Essen kommen?"
Die Küchenschabe war unter dem Spalt der Eingangstür ins Freie geschlüpft. Aveline starrte auf den kleinen Lichtspalt unter der Tür.
„Das glaube ich kaum, Inga", sagte sie und stand langsam auf. „Du trägst ein Kind in dir."
Inga blickte sie ungläubig an. Ihr Mund war vor Erschrecken noch immer leicht geöffnet.
„Ich kann dir ein Pulver geben, welches du dir in dein Essen gibst. Es hilft dir gegen die morgendliche Übelkeit."
Aveline kramte in ihrem Vorratslager und brachte ein kleines Gläschen mit einem weissen Pulver zum Vorschein. Hinkend kam sie in die Wohnstube zurück und reichte es ihrer Kundin.
„Hier. Nimm das."
Inga starrte sie noch immer an, sichtlich verwirrt. „Bei Freya, wie konnte das nur passieren?"
„Ich glaube kaum, dass ich dir das erklären muss."
„Aber wir haben doch immer aufgepasst."
„Das kann nun mal passieren", sagte Aveline.
Inga seufzte. Sie hatte die Situation wohl noch nicht ganz realisiert.
„Wer ist denn der glückliche Vater?", fragte Aveline heiser.
Sie hatte plötzlich einen Kloss im Hals. Sie wollte die Antwort auf diese Frage eigentlich nicht hören, denn sie fürchtete sich davor. Sie hatte eine Vorahnung, ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen, das ihr sagte, dass sie die Antwort nicht mögen werde.
„Rurik, natürlich."
Der Stich traf sie, selbst wenn es sonnenklar gewesen war. Wer denn sonst hatte so oft mit Inga genächtigt? Warum hatte sie überhaupt diese Frage gestellt? Sie schluckte leer und setzte sich wieder auf die Bank.
„Wirst du es ihm sagen?"
Inga schüttelte heftig den Kopf. „Ohhh, ich weiss nicht! Soll ich? Vor Jule hat er mit mir Schluss gemacht. Bei Freya, meinst du, er wird mich wieder zurück wollen? Jetzt, wo ich sein Kind unter meinem Herzen trage?"
Aveline nickte schwach. „Bestimmt ..."
Inga stand plötzlich auf, als hätte sie es endlich kapiert, und hielt sich die Hände an den Unterleib.
„Ich kann es nicht fassen", murmelte sie. „Wir werden eine Familie sein! Unserem Glück kann jetzt nichts mehr im Wege stehen! Die Götter haben es so gewollt. Ich wusste es! Ich wusste es! Wir sind füreinander bestimmt." Sie drehte sich zur Heilerin um, dieses Strahlen zierte ihr Gesicht. „Oh Aveline, ich hätte nicht gedacht, dass du mich einmal glücklich machen könntest!"
Aveline stand auf und nahm Ingas Hand.
„Du solltest ihm möglichst bald von dieser freudigen Nachricht berichten. Ihr wollt doch sicher eure Zukunft planen, bevor er geht", sagte sie und tätschelte Ingas Handrücken.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...