Ein dröhnender Hornstoss, fernes Geschrei und ein heller, stechender Schmerz in den Rippen. Aveline öffnete benommen ihre Augen und blickte um sich. Ein zweiter heisser Stich durchzuckte ihren Körper und sie kniff die Augen zusammen. Der Schmerz strahlte aus und pulsierte von ihrem Oberkörper in ihre Arme und Beine. Jede Bewegung war eine Qual, sogar das Atmen fiel ihr schwer. Sie blieb so regungslos wie möglich sitzen und versuchte krampfhaft sich zu erinnern, was soeben geschehen war.
Sie sass bei der Eiche und fühlte den rauen Stamm im Rücken. War sie eingeschlafen? Sie grübelte fieberhaft.
Das erklärte nicht ihre schmerzende Flanke. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war. Ihr Kopf dröhnte und das helle Licht stach ihr in den Augen. Sie schloss erschöpft die Lider, um dem marternden Pochen zwischen ihren Schläfen entgegenzuwirken.
Schritt für Schritt rekonstruierte sie die Erinnerungen in ihrem Kopf: Das Frühstück mit ihrer Mutter, das Häkeln der Fischernetze, der Garten, das Meer und die frische Luft... Wie in alles in der Welt war sie unter dem Baum gelandet? Sie kniff die Augen fest zusammen und ging den Tag noch einmal durch. Erst das Frühstück zuhause, die Fischernetze draussen vor der Tür, der Kräutergarten, das Meer und die ... das Meer!
Plötzlich kamen die Bilder wellenartig über sie hereingespült. Wie sie die Kreatur im Wasser gesehen hatte und dann die Krieger, die schwer bewaffnet aus dem Schiff herausgesprungen waren. Wie sie zurückgerannt war und von einem dieser Männer gejagt wurde — er viel zu schnell und sie viel zu langsam.
Die Verzweiflung kroch in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu.
Er hatte sie eingeholt! Sie hatte ihm nicht entkommen können. Aber warum lebte sie noch? Warum hatte er sie nicht getötet?
In der Ferne waren Rufe zu hören. Fremde Stimmen, eine Sprache, die sie nicht verstand.
Sie wollte um Hilfe rufen, aber ihr Mund war zu trocken, ihre Stimme zu brüchig. Eine unsichtbare Kraft sog sie in ein dunkles Loch. Sie war zu schwach, um dagegen anzukämpfen und liess Körper und Geist ins Leere driften.
・・・
Aveline erwachte wieder aus ihrem Dämmerzustand, die Baumrinde drückte ihr in den Rücken. Sie versuchte sich zu erheben, aber stöhnte vor Schmerz auf, als sie sich ihrer Arme nützlich machen wollte.
Es war zwecklos. Aus eigener Kraft würde sie sich nicht aufrichten können, geschweige denn den Weg zurück zu ihrem Haus schaffen. Bittere Tränen schossen ihr beim Gedanken an ihre Familie in die Augen.
Sie hoffte so sehr, dass alle wohlauf waren.
Ihr Oberkörper brannte, als stünde sie in Flammen. Die Rippen an ihrer rechten Flanke mussten gebrochen sein. Sie presste die Zähne zusammen. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut! Falls die gebrochenen Knochen im Inneren ihres Körpers Schaden angerichtet hatten, konnte dies tödlich für sie enden. Das hatte sie einmal bei einer Kundin ihrer Mutter gesehen, die nach einem Sturz für eine Behandlung zu ihnen ins Haus gekommen war. Die Frau war nach drei Nächten im Fieberwahn gestorben.
Aveline schob diesen Gedanken schnell wieder von sich. Sterben konnte sie jetzt nicht, zuerst musste sie herausfinden, ob es ihrer Familie gut ging — und zwar schleunigst. Jeden Moment konnte einer dieser Kerle zurückkommen und sie töten. Sie musste handeln, bevor man sie entdeckte.
Sie atmete ruhiger, um den stechenden Schmerz in ihrem Brustkorb zu lindern. Als die Hitze unter ihren Rippen abflaute, reckte sie den Kopf in die Höhe. Sie blinzelte und versuchte, durch die grünen Blätter der Eiche irgendetwas zu erspähen. Ein Spaziergänger, ein Bewohner der Stadt, eine Nonne, irgendjemand.
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Plünderung
Historical FictionBand I Die junge Fränkin Aveline verliert an einem Tag alles: Ihr Zuhause und ihre Familie. Wikinger fallen über ihre Stadt her. Sie wird vom flinken Krieger Rurik entführt und ihrer Heimat entrissen. In einer fremden Welt kämpft sie um ihr Überlebe...