36 - Frühling

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„Björn, mein alter Freund!", rief Ragnar und umarmte den kräftigen Stammesführer aus Skagen herzlich. „Komm herein in die gute Stube!"

Er führte ihn an den Tisch. Björn Graubart liess sich ächzend nieder, sein dicker Bauch war seit dem letzten Mal, als Ragnar ihn gesehen hatte, noch weiter angeschwollen. Am anderen Ende der Tafel sassen bereits der magere Alf Peterson von den östlichen Fynen-Inseln und der weisshaarige Sigurd Stenson aus Mitteljütland. Sie assen geschmortes Wildschwein. Kerzen flackerten zwischen ihnen auf dem Tisch.

Die anwesenden Jarle hatten Ragnar am letztjährigen Thing versprochen, ihm Männer und Schiffe für die geplanten Raubzüge zur Verfügung zu stellen. Der Frühling stand vor der Tür und Ragnar wollte so bald wie möglich in See stechen und neue Gebiete erobern. Der Angriff der Schweden hatte ihm allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht nur der Sigurdson-Clan war in Mitleidenschaft gezogen worden, sondern auch der Clan von Björn Graubart. Die Schweden hatten seine Sippenangehörigen im nördlichsten Territorium von Jütland ebenfalls grausam getötet. Björn Graubart war ein blutrünstiger Mann. Er wollte sich für diesen enormen Verlust an den Schweden rächen, dessen war sich Ragnar sicher.

Er selbst hegte jedoch andere Pläne. Ragnar wollte nicht auf Rachefeldzug nach Schweden, sondern auf Beutezug ins Frankenreich. Den sturen Skagener zu überreden würde keine leichte Angelegenheit werden. Die Männer aus dem nördlichsten Teil von Jütland waren bekannt für ihre störrische Art. Das lag an der rauen See und dem starken Wind im Norden. Sie liessen sich nicht so leicht von ihrer Meinung abbringen.

Ragnar winkte seine Diener herbei und befahl ihnen, dem Neuankömmling sogleich eine Portion des saftigen Fleisches zu servieren und seinen Becher mit Bier zu füllen. Die Männer sollten erst einmal gut bedient sein. Mit einem vollen Magen und Malz im Blut liess es sich besser über politische Themen diskutieren.

„Wie habt ihr den Winter überstanden?", fragte Ragnar in die Runde und biss in eine geschmorte Karotte.

Björn stopfte sich ein grosses Stück Wildschwein in den Mund und grunzte etwas Unverständliches. Der magere Alf trank einen Schluck von seinem Becher und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Sehr schlecht", begann Alf. „Rund zwanzig Familien meiner Sippe sind verhungert. Elendig krepiert. Wegen der miserablen Sommer- und Herbsttage, die wir auf Fynen hatten, ist bei uns das Korn auf den Feldern verrottet. Es war viel zu nass. Sif muss uns aus irgendeinem Grund verflucht haben. Kaum ein gutes Korn wuchs aus dem schlammigen Boden. Ich habe den Hinterbliebenen der Familien mein letztes Silber als Kompensation für den Verlust geschenkt. Das war alles, was ich hatte. Wenn dieser Sommer wieder so grauenhaft verläuft, dann werden wir unsere Siedlungen auf den Fynen-Inseln aufgeben und nach Osten ziehen müssen."

„Osten?", blaffte Björn Graubart und wischte sich mit dem Ärmel über den Bart. „Ihr wollt euch im Osten ansiedeln? Zu diesem schwedischen Scheusal Gustav dem Blauen?" Er bleckte beim Namen des Schweden die Zähne.

Alf zuckte mit den Schultern. „Wenn die Erntegöttin keine Gnade zeigt, dann werden wir keine andere Wahl haben. Soll ich meine Sippe etwa verhungern lassen?"

„Wie könnt ihr das überhaupt in Erwägung ziehen? Geht aufs Festland!" Björn machte eine wischende Bewegung in die Richtung des weisshaarigen Jarls. „Sigurd kann euch doch einige Hufen Land verkaufen und dann siedelt ihr euch eben auf mitteljütländischem Gebiet an. Aber sicher nicht in Schweden!"

Sigurd schüttelte den Kopf. „Wir haben kein frei verfügbares Land. Die Fyner sollen woanders hin. Wir Mitteljütländer leiden schon jetzt unter Platznot. Die letzten Wälder mussten wir abholzen, um mehr Raum für weitere Siedlungen zu schaffen. Es kommt nicht in Frage, dass wir noch mehr Bauern ansiedeln." Er strich sich durch den silbernen Bart und rülpste zufrieden. Ihm schien das Essen vorzüglich zu schmecken. 

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