5 - Sommer

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Vestervig war ein kleines Städtchen am westlichen Ende des Limfjords, welcher das dänische Jütland in zwei Teile trennte. Um von der Nordsee nach Vestervig zu gelangen, mussten Schiffe den engen Thyborøn Kanal durchqueren und durch eine Bucht navigieren, welche an manchen Stellen gefährliche Sandbänke aufwies, auf denen man auf Land laufen konnte, wenn man nicht vorsichtig genug war. Diese tückischen Stellen in der Nissum Bucht dienten dem Städtchen als natürlicher Schutzwall gegen feindliche Schiffe, aber auch gegen hohe Wellen. Vestervig war eine überschaubare Siedlung und gehörte zum nordwestlichen Territorium von Jarl Ragnar Sigurdson - dem berüchtigten und mutigen Entdecker und Herrscher von Nordjütland, welcher den Beutezug ins Frankenreich beordert hatte.

Jarl Ragnar war mit seinem prunkvollsten Langschiff nach Fécamp gereist und hatte Seite an Seite mit den zweihundert mutigsten Männern aus seiner Sippe gekämpft. Es gehörte zur Pflicht eines tollkühnen Jarls, sich mit seinen Männern mitten in Schlachten zu begeben und sein Leben zu riskieren. Ein Jarl wurde nur durch seinen ausserordentlichen Mut, seine körperliche Stärke und seinen besonderen strategischen und politischen Fähigkeiten in dieses ehrenvolle Amt gehoben. Es war eine hart erkämpfte Position, nebst dem König eine der höchsten Ränge, die ein Mann unter Wikingern einnehmen konnte.

Ragnar Sigurdson wartete in Vestervig auf die Ankunft seiner letzten Kriegsschiffe. Er war stolz auf sich und seine Männer. An diesem Abend wollte er ein grosses Fest zu Ehren Odins - dem Göttervater - abhalten.

Bier und Met solle in Strömen fliessen und der Duft von saftig gebratenen Schweinefleisch solle die Halle füllen, das hatte Ragnar seinen Männern nach dem erfolgreichen Beutezug im Frankenreich versprochen. Als Jarl war es seine Pflicht, den Einsatz seiner Männer zu ehren und mit Festen dieser Grösse seine Anhänger mit Essen, Bier und Frauen zu versorgen. Nur so würden sie ihn für lange Zeit als Anführer tolerieren und respektieren.

Es war ein milder Sommernachmittag in Vestervig. Ragnar sass in der grossen Versammlungshalle auf seinem hölzernen Thron, welcher von einem dicken braunen Bärenfell überzogen war, und liess die vergangenen Tage in seinen Erinnerungen Revue passieren. Der Überfall aufs Frankenreich war ein voller Erfolg gewesen. Ragnar war mit sich, seinem Plan und seinen Männern überaus zufrieden. Ragnarök war über die Franken ausgebrochen, seine Berserker hatten Angst, Schrecken und Tod verbreitet - genauso, wie er es von ihnen verlangt hatte.

Das Feuer loderte vor ihm an der Feuerstelle, die Diener eilten umher und steckten in den Vorbereitungen für den Abend. Die Holztische und Bänke, die üblicherweise im Zentrum der Halle standen, wurden aus dem Weg geräumt. Sie wurden in einen grossen ovalen Halbkreis gestellt, sodass Ragnar von seinem Thron aus jeder Person, die an den Tischen sitzen würde, in die Augen blicken konnte.

Ein Diener kam vom seitlichen Eingang herbeigeeilt. „Jarl Ragnar, sie sind da! Die letzten Schiffe sind angekommen!", verkündete er ausser Atem.

Ragnar rieb sich freudig die Hände. „Öffnet das Tor zur Halle, damit sie ihre Schätze hineintragen können. Ich möchte, dass sie alles hier in der Mitte aufeinander stapeln. Die ganze Stadt soll den Reichtum sehen. Sie sollen sehen, wie ertragreich der Beutezug von Ragnar Sigurdson im Frankenreich war!"

„Ja, mein Jarl", murmelte der Diener folgsam.

Ragnar streckte seinen Zeigefinger in die Luft. „Holt den Brauhausmeister und sagt ihm, er soll sein bestes Bier ausschenken. Und sagt dem Metzger, er soll alle seine Tiere schlachten und heute Abend am Spiess braten. Und der Sklavenhändler soll uns seine schönsten Huren kommen lassen. Meine Männer brauchen gutes Bier, volle Bäuche und dralle Brüste! Sie sollen in höchsten Ehren gehalten werden. Es darf heute Abend an nichts fehlen! Hast du gehört, Durup?", befahl er.

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