Samstag, 22. Juli 1944
Liebes Tagebuch!
du wirst nicht glauben, wen ich gerade gesehen habe! Ich glaube es ja selbst kaum. Ich fürchte nur, ich habe mich schrecklich blamiert ...
Aber von Anfang an: Heute Nacht war kein Fliegeralarm; wir konnten tatsächlich einmal durchschlafen. Statt der Sirenen weckte mich am Morgen das Geräusch eines Autos auf der Straße. Gerda schlief noch tief und fest, den rechten Arm neben ihrem Kopf angewinkelt wie ein Baby, also schlich ich mich mit nackten Füßen zum Fenster und zog das Verdunkelungsrollo hoch. Von unserem Zimmer hat man einen wundervollen Blick auf den alten Apfelbaum im Garten. Heute sah ich durch die Zweige hindurch, wie vor dem Haus der Schmidts ein Taxi hielt. Es war gerade mal sechs Uhr morgens und ich wunderte mich, wer so früh schon unseren Nachbarn einen Besuch abstatten würde. Da sprang ein Junge mit kastanienbraunem Haar aus dem Auto und öffnete die Beifahrertür. „Ich helfe dir, Onkel", sagte er. Seine Stimme, die durch die morgendliche Luft laut und klar zu mir herüberwehte, war mir sofort vertraut, auch wenn sie tiefer war als in meiner Erinnerung. Konnte das wirklich Anton sein?
Wie lange habe ich ihn schon nicht mehr gesehen? Es muss drei Jahre her sein, seit er seine Tante zum letzten Mal besucht hat.
Als er Herrn Schmidt aus dem Taxi half, bekam ich einen Schreck. Obwohl Tante Martha Mutti schon erzählt hatte, dass ihr Mann erblindet ist, traf mich der Anblick der schwarzen Augenbinde unerwartet. Herr Schmidt war immer so ein aufrechter Mann gewesen und jetzt musste er sich an Antons Arm zu seinem Haus führen lassen. Als Tante Martha die Tür öffnete und ihrem Mann um den Hals fiel, musste ich auch schlucken.
Danach konnte ich nicht mehr schlafen. Nachdem die drei im Haus der Schmidts verschwunden waren, tappte ich leise zum Kleiderschrank. Gerda murmelte etwas im Halbschlaf. Ich blieb kurz an ihrem Bett stehen und strich ihr die Haare aus der Stirn. Sie sind so hell und weich, wie goldene Seidenfäden. Als Gerda letztes Jahr in die Schule kam, wirkte sie viel zu winzig und zart für den riesigen Lederranzen auf ihrem Rücken, und sie ist auch jetzt kaum kräftiger geworden. Mutti macht sich oft Sorgen, weil das Essen knapper wird.
Ich zog mein hübschestes Sommerkleid aus dem Schrank - himmelblau, wie meine Augen - und begann damit, meine langen blonden Haare zu entwirren und sorgfältig neu zu flechten. Schließlich begrüßt man nicht alle Tage einen heimgekehrten Helden von der Front. Oder einen alten Freund, den man seit langem nicht gesehen hat ...
„Mutti, Herr Schmidt ist heute Morgen heimgekehrt", verkündete ich am Frühstückstisch, während ich mein Brot mit dieser künstlich schmeckenden „Vielfrucht"-Marmelade bestrich, die wir auf unsere Zuckermarken erhalten. Die Sonne schien durch die dünnen Spitzenvorhänge am Fenster direkt auf meinen Platz. Wieder blickte ich am Apfelbaum vorbei auf das Nachbarhaus. Bei der Vorstellung, gleich dort rüberzugehen, fühlte ich ein kurzes Aufwirbeln in meinem Bauch.
„Ich dachte mir, dass ich ihm vielleicht einen Willkommensgruß vorbeibringen könnte", sagte ich.Mutti nickte. „Das ist eine nette Idee. Wir haben noch eine Flasche Cognac im Keller und die Pflaumen aus dem Garten. Richte ihm gute Besserungswünsche von mir aus. Ich würde gern mitkommen, aber ich muss nachher noch zum Frauenwerk."
Mutti lehnte sich nach hinten und schaltete den Volksempfänger ein, der auf der Anrichte hinter dem Esstisch steht.
Ich weiß noch, wie wir vor ein paar Tagen vor dem Rundfunkapparat geklebt und gebannt die Neuigkeiten über das Attentat auf den Führer verfolgt haben. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut bei der Erinnerung. Ich verstehe einfach nicht, wie jemand so etwas tun kann! Was soll denn aus Deutschland werden, wenn der Führer tot ist? Aber zum Glück ist es ja schief gegangen - mal wieder.
Eine halbe Stunde später klingelte ich an der Tür der Schmidts. Und es war ausgerechnet Anton, der mir öffnete. Auf einmal klopfte mein Herz wie verrückt. Er sagte erst kein Wort, sondern starrte mich nur an und ich hatte schon Angst, dass er mich vielleicht nicht wiedererkennt. Ich bekam selber kaum einen vernünftigen Satz heraus und plapperte nur irgendetwas, an das ich mich nicht mehr richtig erinnere. Dabei konnte ich doch früher mit ihm schwatzen, wie mir der Schnabel gewachsen war.
Wie er sich verändert hat! Beinahe einen Kopf größer als ich ist er jetzt, und kräftiger geworden. Aber seine Hände sind noch so, wie ich sie in Erinnerung habe, Musikerhände mit langen, schlanken Fingern. Und auch seine geschwungenen Lippen, die seine Gefühle besser ausdrücken, als ihm das mit seinen Worten gelingt. Er ist jetzt fünfzehn, ein paar Monate älter als ich.
In der Stube überreichte ich Tante Martha (ich nenne sie so, seit ich denken kann, auch wenn sie nicht wirklich meine Tante ist) unseren Willkommenskorb. Herr Schmidt saß umgeben von seinen Kindern im Sessel, seine kleine Tochter Mathilde auf dem Schoß. Mathilde starrte ihn unverwandt an; vermutlich musste auch sie sich erst einmal an ihren Vati mit Augenbinde gewöhnen. Der Anblick stimmte mich wieder traurig. Er wird seine Kinder nie wieder sehen können. Ich wollte ihn ein bisschen aufmuntern, deshalb ergriff ich seine Hand, die warm und stark wie die von Vati. „Herr Schmidt, ich wollte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihren Einsatz bewundere. Sie sind ein echter deutscher Held. Wenn wir nicht Soldaten wie Sie und meinen Vati hätten, die bereit sind, solche Opfer zu bringen ..."
Plötzlich verklang meine Stimme. Irgendetwas in seinem Gesicht hatte mich zum Stocken gebracht. Seine Wangenmuskeln zuckten kurz, ansonsten wirkte er starr und unnahbar. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Verwirrt schaute ich über die Schulter zu Anton, aber der begegnete meinem Blick nicht.
Ich ließ beschämt Herrn Schmidts Hand los. Erst als Herr Schmidt mir Fragen über Vati stellte, fing ich mich langsam wieder. Ich erzählte von Vatis Verletzungen und dass er sicher bald wieder eingesetzt werden würde, sobald sein Bein voll belastungsfähig ist.
Ohne nachzudenken stellte ich dann die dumme Frage: „Werden Sie auch wieder an die Front zurückkehren?"
„Was sollen die mit einem blinden Soldaten anfangen?", antwortete Herr Schmidt. Seine Stimme klang so hart und abweisend, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Sie traf mich wie eine Ohrfeige. Meine Wangen brannten und ich verabschiedete mich danach schnell, unter dem Vorwand, zum Dienst zu müssen.
Was Anton wohl jetzt von mir denkt? Mittlerweile ist er schon wieder weg und ich weiß nicht, wann ich ihn wiedersehen werde.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...