Sonntag, 24. Dezember 1944
Dieses Weihnachten fühlte sich ganz anders an als in den letzten Jahren. Nicht nur, weil die Lebensmittel jetzt immer knapper werden. Vor allem Vati fehlte. Im Vorjahr hatte er wenigstens zu Heiligabend Heimaturlaub.
Dennoch saß ich am späten Nachmittag am Flügel und spielte Weihnachtslieder. Die Stube war festlich geschmückt und erweckte den Eindruck, als wäre alles beim Alten. Ein Adventskranz stand auf dem Tisch und Gerdas aus buntem Papier gebastelte Weihnachtssterne hingen an dem großen Gummibaum, der uns dieses Jahr die Tanne ersetzen musste - sonst hatte Vati uns immer eine mitgebracht. Der würzige Duft von Lebkuchen zog aus der Küche - die einzige Leckerei, die Mutti dieses Jahr gebacken hatte. Dafür mussten die Extra-Rationen Zucker, Mehl und Fett herhalten, aber auch die sind dieses Jahr kleiner ausgefallen.
Mutti zog leise die Verdunkelungsrollos herunter, als es draußen dämmrig wurde. Als ob die Bomber die deutschen Städte nicht auch so finden würden. Ich hoffte, sie würden uns heute verschonen.
Während wir zusammen „Alle Jahre wieder" und „O Tannenbaum" sangen, dachte ich an Vati. Ob er wohl auch jetzt mit seinen Kameraden Weihnachtslieder sang? Ob sie an der Front zu Heiligabend eine Kampfpause einlegten? Oder hockte er, das Gewehr an der Wange, im kalten Schnee, Geschützfeuer statt Glockengeläut im Ohr? Wieso hatte er so lange nicht mehr geschrieben?
Oma und Opa aus Markranstädt waren wie jedes Jahr gekommen. Nach dem Singen hockte Oskar sich neben Opa auf die Sessellehne. „Und jetzt die Geschenke?", fragte er.
Opas Miene war todernst. „Was für Geschenke?"
„Na, heut ist doch Weihnachten."
Er schüttelte den Kopf. „Heute gibt's keine Geschenke.
Gerda verzog enttäuscht den Mund, aber Oskar blickte skeptisch. Oma zog Gerda zu sich heran und streichelte ihr übers Haar. „Für artige Kinder gibt es vielleicht doch eine Kleinigkeit", tröstete sie und schaute Opa mit hochgezogenen Brauen an.
„Na, dann wollen wir doch mal sehen", sagte Opa mit einem Augenzwinkern.
Er deutete auf die Bank, auf der unser „Gummi-Weihnachtsbaum" stand. Eine lange Tischdecke hing darüber und verdeckte die Beine. Gerda starrte Opa fragend an, aber Oskar war schneller. Er hob die Tischdecke an und zog einen Holzschlitten darunter hervor. Stabil und groß genug für zwei Leute.
„Oh!", sagte Oskar nur mit großen Augen.
„Der ist ja toll, hast du den selbst gemacht?", fragte Mutti.
Opa nickte.
„Jetzt muss es bloß noch schneien", sagte Oskar, der schon auf dem Schlitten Probe saß.
Dann winkte Opa Gerda herbei und tat so, als würde er sie nach etwas absuchen. „Was hast du denn da hinter den Ohren?" Wie ein Magier, der ein Häschen aus dem Hut zaubert, zog er auf einmal etwas hinter Gerdas Kopf hervor und hielt es ihr vor die Nase. Es war eine Blockflöte. Ich lächelte. So eine hatte ich auch von ihm bekommen, als ich sechs war. Ich hatte sie oft bei Ausflügen in Wald und Feld dabei, um beim Picknick auf einer Waldlichtung darauf zu spielen.
Gerda brachte die Flöte stolz zu mir, damit ich sie begutachten konnte. „Meine eigene Flöte! Ich möchte Schneeflöckchen, Weißröckchen spielen. Bringst du mir das bei?", fragte sie mich.
„Na klar!" Ich gab ihr einen Nasenstüber.
Von Oma bekamen wir alle noch etwas Selbstgestricktes: eine Pudelmütze für Gerda, ein Schal für mich und Fäustlinge für Oskar.
Beim Essen unterhielten sich Mutti und Oma darüber, wie man mit den wenigen Nahrungsmitteln, die es noch gab, leckere Gerichte zaubern konnte, während Opa für Gerda eine seiner Geschichten erzählte. Ich hörte nicht richtig zu, war mit den Gedanken wieder bei Vati. Wenigstens einen Brief zu Weihnachten hätte er uns doch schreiben können. Ich wusste, dass Mutti sich auch Sorgen machte, obwohl sie sich bemühte, fröhlich zu wirken. Wenn er doch morgen heimkommen würde. Das wäre eine Freude ... Ich würde ihm so gern von Ilse erzählen. Ihm könnte ich mich anvertrauen. Ob ich noch einmal bei ihr vorbeigehen soll? Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich so einfach verschwunden bin.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historische RomaneLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...